Für Urlauber, die sich am liebsten auf ein All-Inclusive-Programm mit Vollpension, Kinderclub und festen Yogakursen verlassen, ist es wohl eher nichts. Diejenigen, denen der Sinn nach Improvisation, Freiheitsgefühl, Naturerlebnissen und völliger Unabhängigkeit steht, sei es indes wärmstens empfohlen: das Bikepacking – oder Camping mit dem Radl.
„Mit dem Fahrrad zu reisen, das eigene Land zu erkunden und festzustellen, wie schön es bei uns ist, das liegt voll im Trend“, sagt Simon Schnitzer, Marketing-Manager vom Sportartikel-Fachgeschäft IKO in Raubling. „Diese Entwicklung beobachten wir schon seit einigen Jahren“, pflichtet Shopleiter Daniel Hofmann bei, „aber in den letzten Monaten sind sogar Kunden aus München vermehrt zu uns gekommen, um sich hier nicht nur das passende Rad auszusuchen, sondern vom Backpack bis zum Zelt die gesamte Ausrüstung zuzulegen.“
Zum Hintergrund: Während viele Hersteller im zweiten Corona-Sommer entweder sehr lange Lieferzeiten haben oder komplett ausverkauft sind, hat IKO ausreichend bestellt – bei Corratec, dem Schwesterunternehmen, das praktischerweise unterm selben Dach sitzt, sodass innerhalb von wenigen Stunden jedes Radl in der gewünschten Ausführung auf den Dachgepäckträger geschnallt und mitgenommen werden kann.
Dein neues Bike 2021: Trends und Tipps vom Experten von Iko Sport
Auf Gravel- oder E-Bike
Grenzenloses Radeln. Freie Natur. Selbstversorgertum. Wir finden, diese großartige Idee sollte unbedingt einem Selbsttest unterzogen werden.
Und so landen an einem heißen Sommermorgen Isomatte, Gaskocher, vegetarisches Tüten-Risotto, Handtuch, Teller und Besteck in den bereit gestellten Rucksäcken, in den Sattel-, Rahmen- und Lenkertaschen sowie auf dem Gepäckträger unserer Corratec-Bikes. Andreas, der Fotograf, der zusätzlich seine Kameraausrüstung transportieren muss, erhält ein Allroad-Ebike, ich selbst die kleinere Ausgabe desselben, mit einem Boschmotor und einem 500-Watt-Akku ausgestattet. Bis zu 180 Kilometer sind damit drin. Nur Andi, unser Fotomodell, muss ohne Motor auskommen. Dafür darf er ein brandneues Gravelbike fahren, also ein Zwitter aus Rennrad und Mountainbike, der das beste aus beiden Welten vereint: Schneller und leichter als ein Mountainbike, dank ihrer breiteren Profilreifen aber auch für Schotterpisten und Waldwege geeignet, bieten Gravelbikes sich ebenso fürs tägliche Pendeln zur Arbeit an als auch für mehrtätige Touren durch mäßig anspruchsvolles Gelände.
Touren wollen geplant sein
Maisfelder, Klee- und Blumenwiesen, braune Äcker und grüne Felder ziehen an uns vorbei. Wir rollen auf Asphaltstraßen und Schotterwegen entlang, Kühe lassen uns ihr Desinteresse spüren, ein kleines Fohlen kommt neugierig auf uns zu. Die Sonne brennt vom Himmel, wie es sich für Ende Juni gehört. Wir treten mühelos in die Pedale und fangen an zu spinnen: Von Raubling aus direkt weiter durchs Inntal ist es bis zum Wilden Kaiser nicht arg weit. Oder wie wäre es, auf dem Bodensee-Königsee-Radweg auf 453 Kilometern von Lindau aus durchs Allgäu, über die Zugspitzregion, die Ammergauer Alpen, das Blaue und das Tölzer Land bis in die Tegernsee-Region und das Chiemgau zu fahren und letztendlich Deutschlands südöstlichsten Zipfel, das Berchtesgadener Land, zu entdecken?
Doch ist unser Bikepacking-Test auf nur einen Tag angelegt und so kreuzen wir durch die – entschuldigt das Klischee, aber anders lässt es sich nicht sagen – absolut idyllische Gegend von Bad Feilnbach, streifen die Sterntaler Filze, saugen den Blick auf Samerberg und Hochries in uns ein und genießen den Schatten der prächtigen Leibl-Linde in Kutteling, die Wilhelm Leibl, einem der wichtigsten Vertreter des deutschen Realismus, gewidmet ist. Beim Anstieg nach Derndorf stellen wir gemütlichen Ebiker dann die Wadlkraft unseres „Biobikers“ auf die Probe und erachten sie als absolut zufriedenstellend.
Risotto im Camping Geschirr
Rast machen wir im unteren Jenbachtal auf sonnigen Kiesbänken. Dem klaren, kühlen Wasser des nordöstlich des Wendelsteins entspringenden Wildbachs können die Männer nicht widerstehen und nehmen ein Wasserfall-Bad, während sie mir ganz old school das Kochen überlassen. Dank des super leichten travellunch-Pakets und des im Camping-Geschirr siedenden Bachwassers steht das Risotto in wenigen Minuten auf der Isomatte (wer braucht schon Tisch und Stuhl?). Den Herren schmeckt’s, den Abwasch übernehmen sie auch.
Zeit für einen Tausch: Zum ersten Mal sitze ich auf einem Gravelbike und muss mich entscheiden, welche der drei Handpositionen auf dem Rennradlenker mir am besten gefallen. Etwas ungewohnt für eine eingefleischte Mountainbikerin zwar, doch die Geschwindigkeit, die ohne große Kraftanstrengung zu erreichen ist, ist ein absolutes Plus.
Praktische Gepäcktaschen sind ein Muss
Bikepacking hat seinen Ursprung übrigens in den mehrere Tage dauernden, nordamerikanischen Mountainbike-Langstreckenrennen, auf denen fremde Hilfe verboten ist, weshalb die Biker als Selbstverpfleger und Draußen-Schläfer auf möglichst leichtes Gepäck setzen, um nicht an Geschwindigkeit einzubüßen. Welche Gepäcktaschen (immer spritzwassergeschützt, gern auch ganz wasserdicht), welche Handyhalterung, welche Rucksäcke und Zeltausrüstung sich für welchen Bikepacking-Typ am besten eignen, darüber informieren die IKO-Fachberater ausführlich.
Seit 1972 existiert die von Konrad Irlbacher Senior gegründete IKO Sportartikel GmbH. 1990 hat Konrad Junior die Fahrradmanufaktur Corratec gegründet, abgeleitet vom italienischen Corrado für Konrad.
Heute werden rund 80.000 Räder im Jahr in der Corratec-Schmiede im Süden Rosenheims gefertigt, von denen ein Großteil in mehr als 40 Länder weltweit exportiert wird. Wir geben unsere nach einem langen, sportlichen Tag in Oberbayerns Vorzeige-Natur ein wenig traurig wieder ab. Gern wären wir noch ein wenig länger unterwegs gewesen. Das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit nehmen wir aber mit. Und ein, zwei neue Bike-Shirts auch. Ich geb’s ja zu.