Vait-Musiker Ralf Müller hat aus einem Bürokomplex in Bad Aibling ein Künstlerhaus gemacht.
„Was ist da in der Telekom los?“ Das fragen sich Bad Aiblinger*innen seit geraumer Zeit. Statt Bürokräften zieht es neuerdings „Langhaarige mit Verstärkern“ (Zitatgeber folgt) in den fahlgrauen 70er Jahre-Bürobunker unweit der Stadtmitte. Und seit kurzem prangt auf der Stele unterm Funkturm auch nicht mehr das magenta-farbene Telekom-T, sondern ein neuer Schriftzug.
Weiß auf rot steht’s da: Künstlerhaus Bad Aibling.
Lästern ist nicht mehr
Was anmutet wie eine für Aibling eher ungewöhnliche Hausbesetzung, ein Kunst-Pop-Up-Projekt aus der Großstadt oder schlicht, (wie wenig visionär!), ein neuer Verein, ist zunächst einmal auf einen Mann zurückzuführen: Ralf Müller, Frontmann der Band Vait. Der kennt seine Pappenheimer, also die anderen Aiblinger*innen. Als er in der Pentenriederstraße sein Projekt startete, das man auf den ersten Blick etwas größenwahnsinnig nennen könnte, ging es – genau deshalb – zunächst konspirativ zu. „Das Künstlerhaus ist jetzt ’ne gute Story. Aber es wäre auch ’ne richtig gute Story gewesen, wenns nicht geklappt hätte. Nach dem Motto: Der Müller von Vait hat wieder so einen Höhenflug gehabt, is’ er halt auf die Schnauze gefallen“. Sagt der Müller. Die ruhige Kugel hat sich gelohnt. Jetzt rollt und rockt sie, im Künstlerhaus Bad Aibling.
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Ach, dann halt ein ganzes Haus
Zurück auf Anfang. Zu der Zeit im Herbst 2020, in der die Schulen zwar wieder öffneten, aber wegen der Corona-Regeln mit dem Musikunterricht, den Müller und seine Kolleg*innen in deren Räumen geben, immer noch nichts weiterging. Eine Alternative musste her. Der Musiker forstete die örtlichen Immobilienanzeigen durch, traf sich mit dem Vermieter des Telekom-Bürogebäudes.
Digitalisierung sei Dank war im Komplex ein (fast) ganzes Haus frei geworden. Man sah es sich gemeinsam an, stiefelte durch leere Gänge und darin über jenes schwarz-weiße Linoleum, das Aiblinger (Ex-)Gymnasiast*innen vertraute Schauer über den Rücken jagen kann. Hinter milchverglasten Türen versteckte sich ein helles Büro neben dem nächsten. So viel Platz!
Gut, die rund 500 Quadratmeter wären für den Musikunterricht nun nicht unbedingt nötig gewesen. Wohl aber, um eine schon etwas länger schwelende Vision des Aiblingers wahr werden zu lassen: Wie wäre es, ein Künstlerhaus zu eröffnen, das sich an Kreative untervermieten ließe? Auf dass sie sich so richtig austoben könnten, gar bei Tageslicht. Angesichts der vielen Jahre, die er selbst, so die düstere Schilderung, in dunklen Keller-Proberäumen zugebracht hatte, war Müllers Bedenkzeit eine kurze – und der Mietvertrag für den teils sanierungsbedürftigen Bürokomplex recht schnell unterschrieben.
Es werde Licht
Der nächste Lockdown kam. Die Welle der Interessenten an den zehn Miet-Ateliers bremste er nicht. Nur noch raus aus den eigenen vier Wänden war die Devise. Die Mieter*innen zogen ein in „die Telekom“, mit Staffeleien und Massageliegen, mit Fotostudioequipment und Schlagzeug. In schweißtreibenden Wochen wurden Proberäume erwählt und schalldicht gemacht, damit die jammenden Bands nicht die Nachbarn der angrenzenden Wohnsiedlung zusammentrommeln. Im dritten, obersten Stockwerk wurde eine Wohnung saniert. Dort wohnen aktuell zwei Musiker, die sich von einer abendlichen Jamsession sicher nicht aus der Ruhe bringen lassen.
So gibt es nun in Bad Aibling also Räume für die Kunst, im wahrsten wie im übertragenen Sinne. Die eine Einladung sind, keine feindliche Übernahme. Die wilden Zeiten mögen noch nicht ganz vorbei sein, werden gar wiederbelebt. Aber eben in Kooperation statt in überdrehter Antifa-Attitüde. Stadtfest statt Backsteine. Dass das geht, musste Müller – im Herzen immer noch ein bisschen Dorfpunk – auch erst lernen. Nach dem Schulabschluss hatte er die Heimatstadt zunächst fluchtartig verlassen. Um später nicht nur nach „Oabling“, sondern auch mit der Erkenntnis heimzukehren, dass für den, der gestalten will, eine oberbayerische Kleinstadt sehr wohl Potential bietet.
Kunst, sei laut!
Gestalten können heißt aber auch: Geld verdienen. Oder bildlicher, Müllers Worte: „Der Weg vom kreativen Träumer zum wirtschaftlichen Pflegefall“ ist nicht sehr weit. Es sei an der Zeit, dass Künstler*innen sich nicht mehr mit „schimmeligen Kellern“ zufrieden geben. „Standing bitte!“, so soll es spätestens nach der zermürbenden Coronaflaute für Kulturschaffende auch vom Aiblinger Künstlerhaus in die kleine große Welt hallen. Das neue Refugium soll dabei helfen. Wer will und an Müllers vielleicht gar nicht so größenwahnsinnige Idee glaubt, kann hier Projekte starten, für die er oder sie bisher keinen Raum gefunden hat.