Es ist ein Ort, an dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen. Ein Projekt, das viel zu verrückt klingt, um wahr zu sein – aus einer Industriebrache ein autarkes Dorf entstehen zu lassen, in Eigenregie, ganz ohne Investorengelder und ohne diese in der Immobilienbranche oft grassierende Gier nach Gewinnmaximierung. Allen Zweifeln und Unkenrufen zum Trotz haben sich Rudolf Finsterwalder und Maria José Finsterwalder da Silva diesen Traum erfüllt. Und das Leben in der Landlmühle könnte nicht prächtiger gedeihen.

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Als nächstes wünschen sie sich ein Café, die Finsterwalders, mit eigener, kleiner Backstube vielleicht (denn für Manufakturen haben sie ein Faible). Einen Ort, an dem sowohl die Nachbarschaft als auch Besucher:innen aus nah und fern in gemütlicher Atmosphäre zusammenkommen können, um (bestenfalls fair gehandelten) Kaffee zu trinken, Gebäck zu knurpsen und Klatsch und Tratsch auszutauschen. Passende Räumlichkeiten wären vorhanden. Klar, es gibt das Restaurant, das LANDL, wo man von Mittwoch bis Samstag wirklich fürstlich dinnieren (und samstags auch mittagessen) kann, raffinierte Menüs aus kompromisslos frischen, regionalen Zutaten (viele davon sogar aus der hiesigen SoLaWi, die gleich ums Eck Gemüse zieht), aber das befriedigt ja ganz andere Bedürfnisse.

Restaurant, Cocktails und Lästerbankerl

Und hinten, im alten Turbinenhaus der Mühle, mixt Abdul Iqbal (den alle einfach Abi nennen) in seiner kleinen, lounge-artigen Bar achtpunktsechs von Donnerstag bis Samstag feine Cocktails und Longdrinks, mit so viel Liebe und einem bis ins kleinste Detail betriebenen Aufwand (den eigenhändig im Garten gezupften Kräutern zum Beispiel oder den selbst angesetzten Sirupen und Infusionen), dass man meinen könnte, man schlürfe die Drinks in einer preisgekrönten, großstädtischen Bar und nicht hier, im untersten Zipfel von Stephanskirchen, an der südöstlichen Grenze zu Rosenheim, wo alte und neue Besiedelung übergehen in Wald und Wiese und sich die Sims und der Röthenbach durchs Gelände schlängeln. (Kein Wunder, dass da dereinst gleich mehrere Mühlen klapperten.)

Und ja, an der einen Hauswand steht das sogenannte Lästerbankerl, ein extralanges, uriges Sitzmöbel, auf dem man in der nachmittäglichen Sonne sitzen und nicht nur lästern, sondern sich auch vorzüglich freuen kann, über neue Mieter:innen, über freundliche Kund:innen, über die ebenso dynamisch wie organisch voranschreitende Entwicklung dieses Ortes. Doch auch das würde ja wohl mit einem Becher Kaffee in der Hand deutlich mehr Spaß machen, wer wollte den Finsterwalders da widersprechen? 

Visionäre ganz besonderer Art: Rudolf Finsterwalder und Maria José Finsterwalder da Silva
Fotos: Benedikt Fuhrmann

Ein wenig Hintergrundwissen:

Die Geschichte der Landlmühle reicht bis ins Jahr 1376 zurück. Damals wurde sie erstmals urkundlich erwähnt. Im Besitz von Familie Finsterwalder befindet sie sich seit 1869. Über viele Jahrzehnte verwandelten Rudolf Finterwalders Vorfahren hier Getreide in bis zu 30 Tonnen Mehl pro Tag. Die zugehörige Landwirtschaft, das Sägewerk und ein kleiner Lebensmittelladen machten die Landlmühle zu einer Art regionalem Wirtschaftszentrum – ähnlich den heutigen Gewerbegebieten, wenn die nicht meist ebenso sinn- wie lieblos hingepflastert wären. Da könnten sich Finsterwalders in Rage reden, wenn man sie nach den planerischen oder architektonischen Sünden nicht nur des eigenen Landkreises fragt, nach der ebenso hirn- wie mutlosen Entwicklung so vieler Städte und Gemeinden.

Verkaufen oder verändern, das war die Frage

Um beider Seelenfrieden willen bleiben wir also hier, wo Rudolf und Maria José Finsterwalder da Silva eindrucksvoll beweisen, dass es besser geht. Viel besser. 1983 wurde der Mühlenbetrieb eingestellt, 2002 verstarb Rudolfs Vater, und das Ehepaar musste sich entscheiden: In Berlin bleiben und das weitläufige Gelände verhökern (um dabei höchstwahrscheinlich ordentlich Reibach zu machen), es konventionell entwickeln (und damit den eigenen Anspruch untergraben) – oder verdammt nochmal ein Wagnis eingehen. Wenn man sich die Karriere von Rudolf und Maria anschaut, überrascht es nicht, dass sie sich für Letzteres entschieden haben. Die Finsterwalders sind alles andere als ein gewöhnliches Architekt:innenduo. Sie sind kluge, ja brillante Planer und Gestalter. 

Auch in der Landlmühle unterwegs sind Corinna und Benedikt Fuhrmann alias „Rosen & Kohl“

Als „Raumunternehmer“ hat man sie einmal bezeichnet, ein Begriff, den Prof. Dipl.-Ing. Klaus Overmeyer geprägt hat. Der leitet das Lehr- und Forschungsgebiet Landschaftsarchitektur in der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen an der Bergischen Universität in Wuppertal und bezeichnet damit Menschen, die Orte auf neue Weise gestalten – eben nicht mit der rein wirtschaftlichen Brille auf der Nase, sondern mit ebenso innovativen wie visionären Absichten für den Raum, die Ressourcen und die Menschen.

👉 Landlmühle – the Dorf to be

Studiert haben Finsterwalders an der FH Rosenheim (Innenarchitektur) und an der TU Berlin (Architektur). Die Haupstadt, wo nach dem Mauerfall eine Art architektonische Aufbruchsstimmung herrschte, eine Experimentierfreude und Offenheit, wie man sie in Bayern nicht kannte, wurde ihnen zur Heimat und zum kreativen Biotop. Die Stadt war ein Paradies für Menschen, die das Bauen als dynamischen Prozess verstanden, dessen überkommene Regeln endlich hinterfragt, ja wildentschlossen  über den Haufen geworfen werden dürfen; Architektur als Experimentierstube. Die ganze Stadt ein Schmelztigel aus Freigeistern. Und mittendrin diese kulturelle Vielfalt! Wenn sie etwas an Berlin vermissen, sagen sie einmütig, dann ist es vor allem der geistige Austausch mit Gleichgesinnten. Finsterwalders studierten und arbeiteten bei namhaften Architekten, bei Max Dudler, Alvaro Siza oder Ortner & Ortner, ehe sie ihr eigenes Büro gründeten, im Jahr 2000. Doch dann kam der Anruf: Rudolf habe den Vater, die Landlmühle ihren Kopf verloren.  

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Neuanfang in der Landlmühle

Neuanfang in der alten Heimat also. Zunächst wurden sie belächelt. Warum sollten zwei durch und durch urban tickende Menschen ausgerechnet hier arbeiten und wohnen wollen? Und diese Hirngespinste! Doch Finsterwalders blieben ihrer Überzeugung treu. Anfragen von großen Investoren lehnten sie ab, weil sie wussten, dass ihre Idee nur funktionieren würde, wenn sie in ihrem Tempo und nach ihrer Philosophie vorgingen. „Wir wollten keinen weiteren reinen Wohnkomplex und auch keinen Gewerbepark erschaffen, sondern einen Ort, der beides vereint – einen Lebensraum, der mit und für seine Bewohner wächst“, sagt Rudolf Finsterwalder. Die ersten Monate, wenn nicht Jahre erwiesen sich dann durchaus als Geduldsprobe. Die Banken wollten Fortschritte sehen, Maria und Rudolf nicht jedes x-beliebige Unternehmen willkommen heißen.  


„Unsere Vision ist ein Dorf, in dem möglichst das komplette Leben abgebildet wird.

Rudolf und Maria Finsterwalder

Den Wendepunkt bildete die Kletterhalle. Ein Publikumsmagnet, ein Gebäude, das sich bereichernd in den Bestand einfügte. Es folgten Ateliers, Werkstätten, Coworking-Spaces, eine solidarische Landwirtschaft. Heute leben und arbeiten in der Landlmühle kreative Selbstständige, Handwerker:innen, Designer:innen und Büromenschen. „Die Auswahl hat sich quasi von selbst selektiert. Die Richtigen kamen und blieben“, sagt Maria Finsterwalder.

Altes Wesen erhalten

An die bewegte Vergangenheit des Ortes erinnern industrielle, historische Hinterlassenschaften, Mühlsteine und Infotafeln. Kunstwerke aus der Hand von Rudolf lassen Spaziergänger:innen innehalten und die Umgebung bewusster wahrnehmen: Einerseits die ursprüngliche Natur, die das Landl umgibt, andererseits das wiederbelebte Ensemble, dem man sein organisches Wachstum ansieht, wenn man durch die Gassen geht oder das eine oder andere Gebäude betritt, wo jahrhunderte alte Dachsparren oder Eichendielen knarzen, wo hohe Decken und lange Schnitte loftartige Stimmungen erzeugen. Blickt man aus dem Fenster, erspäht man als Gegenpol das energieeffiziente Smart-Haus, das sich Finsterwalders gebaut haben, oder die beiden Gebäude „Ginger und Fred“, die mit ihrer asymmetrischen Geometrie als architektonisches Wahrzeichen des Geländes gelten. 

Ginger und Fred
Fotos: Benedikt Fuhrmann

Die Neubauten bestehen vornehmlich aus Holz. Das Material hat Tradition in der Region, seine Verarbeitung ist ökologisch sinnvoll und nachhaltig. Von rustikaler Alpenromantik aber keine Spur! Die Architektur ist modern, reduziert, durchaus urban, aber trotzdem mit einem tiefen Verständnis für den Bestand. „Es geht darum, flexibel nutzbare Räume zu schaffen“, sagt Rudolf Finsterwalder. „Kluge Architektur kann alles sein: Wohnung, Atelier, Praxis, Büro. Wenn sie obendrein gut gemacht ist, hält sie quasi ewig – und das ist das Nachhaltigste, was man tun kann.“

Nachhaltiger öffentlicher Raum

Für Finsterwalders ist Architektur kein Selbstzweck, sondern eine Antwort auf den Raum, die Bedürfnisse der Menschen und die Geschichte des Ortes. Ein Gebäude muss in seinen Kontext passen, nicht durch Trends bestimmt sein. Interessante Gestaltung? Ja, unbedingt, aber immer mit dem Fokus auf Aufenthaltsqualität! Mut zur Lücke. Lieber grüne Freiräume als noch einen Parkplatz. Nachhaltigkeit beinhaltet für Finsterwalders nicht nur den Einsatz ökologischer Materialien, sondern auch, dass Gebäude langfristig nutzbar bleiben und sich verändernden Bedürfnissen anpassen können.

Manchmal braucht es ein ganzes Dorf

Vor dieser Prämisse versteht sich die Landlmühle als eine Art modernes autarkes Dorf. Bestes Beispiel: Die alte Mühlenturbine wurde modernisiert und versorgt das Gelände heute wieder mit Strom. Die solidarische Landwirtschaft betreibt ökologischen Gemüseanbau, der Wochenmarkt bringt frische Produkte direkt vor die Haustür. „Wer hier wohnt, muss im Grunde gar nicht mehr weg“, sagen Finsterwalders. Auch das soziale Leben schlägt mit eigenem Puls. Wer hier lebt, engagiert sich meist auch für das Projekt, organisiert Veranstaltungen, hält gemeinschaftliche Flächen in Ordnung, packt mit an, wo es eben notwendig ist. Das schafft nicht nur eine enge Gemeinschaft, sondern auch ein Gefühl von Eigenverantwortung für den Ort.Wer hier einzieht, bleibt meist lange. Wer hier lebt oder arbeitet, darf Ideen einbringen. Nur so funktioniert das Konzept: Einen Raum zu kreieren, der atmet, der sich stetig weiterentwickelt, der mit seinen Bewohnern wächst.

Und die hier schwärmt für den Markt in der Landlmühle: Steffi Wimmer

„Erstaunlich, dass andere das nicht so machen“

Maria und Rudolf Finsterwalder nehmen dabei viele Rollen ein: Sie verstehen sich nicht nur als Architekten, sondern auch als Stadtplaner, Unternehmerin, Vermieter, Gemeindevorsteherin und manchmal sogar als Vermittler. Sie moderieren Konflikte, bringen kreative Köpfe zusammen und steuern die Entwicklung mit einer Mischung aus Mut und Pragmatismus. In der Form könnte die Landlmühle ein Modell für die Zukunft des dörflichen Lebens sein. Ein Gegenentwurf zum rein zweckmäßigen Wohnungsbau, umzingelt von jenen sterilen, gleichförmigen Gewerbflächen. Stattdessen ein lebendiger Organismus, der alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens auf natürliche Weise vereint: Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Kunst, Kultur, Begegnung. So gesehen kann man Maria Finsterwalder nur Recht geben, wenn sie sagt: „Ich finde es weniger erstaunlich, dass wir das so machen. Ich find‘s erstaunlich, dass andere das nicht so machen.“ Fehlt nur noch das Café zum perfektem Glück.