Bayerische Musik ist längst weg vom angestaubten Hackbrett- und Zither-Image. Spätestens seit Dicht & Ergreifend und BBou wissen Liebhaber:innen, dass auch „jüngere“ Stile in Mundart extrem gut hörbar sind. Das haben sich vor Jahren auch Anja Bavaria und Los Brudalos gedacht. Erstere erreicht mir ihrem bayerischen „Alko-Pop“ längst gigantische Streamzahlen auf Spotify (und für volle Hallen von Bad Tölz bis Mallorca); letztere haben mit ihrem „Bauwong“ eine Hymne für alle Jugendlichen und Junggebliebenen geschaffen, die rauschige Abende „am Busen der Natur“ zu schätzen wissen.
Gemeinsam mit Anja Bavaria liefern die Mannsbilder aus dem Oberland jetzt den EM-Song, den wir auch im Büro kopfnickend rauf und runter hören – und preisen damit Thomas Müller so, wie er es schon längst verdient hat. Mit Ohrwurm-Garantie!
Übrige: Kurz bevor die Pandemie schlug, hat sich unser Christian auf den ein oder (na gut, „und“) anderen Drink mit Anja Bavaria getroffen und mit ihr (und steigendem Alkoholpegel) gesprochen. Hier das famose Interview noch einmal zum Nachlesen:
Erst die Vorbläserin, dann das Vergnügen
„Boarischer Alko-Pop“: Was klingt wie klebrige Drinks aus der Dorfdisko, beschreibt in Wirklichkeit einen feucht-fröhlichen Musikstil. Erfunden hat ihn die Singer-Songwriterin Anja Bavaria; und mit „Bsuffn ohne Grund“ hat sie das musikalische Manifest zum Genre gleich mitgeliefert. Wer solche Töne spuckt, schreit ja regelrecht nach einem alkoholgeschwängerten Interview. Auf nach Bad Tölz also!
Erste Anlaufstelle der Bavaria und meiner Durstigkeit: das Bistro Inkognito. Wo könnte man stilgerechter über Gott, Alkohol und die (Musik-)Welt schwadronieren als hier im Obergeschoss eines großen Tölzer Gewerbekomplexes? Zumal jene unheiligen Hallen dereinst eine Großraumdiskothek beherbergten. Als Jugendliche, gesteht Anja kichernd, sei sie die Gittertreppe oft hinaufgestakst, um zu feiern. Beim frühmorgendlichen Wiederhinunterstaksen habe sie sich dann die Absätze etlicher High Heels ruiniert. Heute hüpft sie behände in Turnschuhen zu Tisch; und beides – Anekdote wie Schuhwerk – bestätigen den bis dato nur über Instagram gewonnenen Eindruck: Eine unverkrampfte und uneitle Nachwuchskünstlerin ist diese Anja Bavaria.
Wir bestellen Piña Colada (sie) und einen Touchdown (ich) und beginnen mit den obligatorischen biografischen Eckdaten. Am ersten April 1994 in Bad Tölz geboren, wächst die Bavaria als Fichtl Anja im nahen Gaißach auf.
„Wie die Fechterin, nur ohne e“, sagt sie und beschreibt mit der Buchstabiernachhilfe unbewusst ihr Alter Ego. Denn als Anja Bavaria führt sie gewissermaßen auch ein Florett. Nur, dass ihres nicht aus Stahl besteht, sondern aus Worten. Diese Bavaria besticht durch einen herrlich selbstironischen Humor; ein Humor, so schwarz wie ihre Klamotten, so scharf wie eine Klinge. In ihren Instagram-Storys erinnert sie manchmal an den frühen Harry G, als der seine Stänkereien noch in amateurhafter Eigenregie ins Netz stellte. „Wuid und frei“ quasi – wie Anja Bavarias erstes Album und erste Single-Auskopplung treffenderweise heißen.
Darauf hören wir: Eingängigen (und eigenhändig produzierten) Elektro-Pop in Mundart, gerolltes Oberland-r inklusive. Sie weiß, sagt sie, dass sie damit in Hamburg höchstwahrscheinlich niemanden vom Hocker haut. Dafür fühlt sie sich wohl mit dem Sound, viel wohler als mit dem Klang der ersten musikalischen Gehversuche. Lassen wir die Hochzeitsband, das Duo für die Taufe und den schäbigen Versuch einer Plattenfirma, sie in eine ganz schräge Schiene zu schubsen, mal außen vor: Als Solokünstlerin debütierte Anja 2018 mit klassischem Gitarren-Poprock, veröffentlichte sogar eine balladeske Single in dem Stil. Doch sie erkannte schnell, dass sie dem Genre nichts Neues würde hinzufügen können. Als Studentin des Studiengangs „Medien und Kommunikation“ ging sie den weiteren Verlauf der Karriere pragmatisch an. Sie überlegte: Was könnte mein USP sein, mein Alleinstellungsmerkmal?
Gelandet ist sie beim heutigen Sound mitsamt zugehöriger Kunstfigur. Machen wir uns nichts vor: Bei aller Authentizität bleibt Anja Bavaria doch auch eine Rolle. Im Grunde verhält es sich dabei wie im Hip Hop oder dem Heavy Metal. „Böse-Buben-Musik“, auf die sie tatsächlich steht. „Ich seh mich später in einer Metal-Band“, sagt sie scherzhaft. Und wie wir wissen, beten die wenigsten Metaller wirklich Satan an, verbringen die wenigsten Rapper ihre Freizeit mit Nutten und Koks. (Ausnahmen bestätigen freilich die Regel.) Jedenfalls sollte man immer ein klein wenig abziehen, wenn Anja Bavaria vom Leder zieht.
Dieses Vom-Leder-ziehen klingt beispielsweise so: Was es mit den beiden Damen auf sich hat, die immer mit ihr auf der Bühne herumturnen, frage ich. Die Antwort: „Das sind meine B-Janes. B für bisexuell.“ Sagt’s, zwinkert und fügt schnell hinzu: „Na, Schmarrn. B wie in Bavaria halt, weil echte D-Janes sind’s ja nicht.“ Sagt’s, zwinkert wieder und ergänzt: „Ok, im Ernst: Die heizen die Stimmung an, wie die Vorbläser im Porno.“ Sagt’s, zwinkert erneut und betont: „Es ist einfach schee mit Leuten auf der Bühne zu stehen, mit denen man danach gern saufen geht.“ Hach, herrlich, wenn noch kein Pressesprecher dazwischengrätscht…
Apropos saufen, apropos gehen – nach den Einstiegscocktails steht ein Locationwechsel an. Wir spazieren einmal quer durch Tölz, hinüber in „Papas Kesselhaus“. Der Kellner begrüßt die Bavaria mit Küsschen links, Küsschen rechts. Es ist einer ihrer Stammkneipen. Auf ihre Empfehlung hin mampfen wir sogenannte „Rennsemmeln“. Riesige, überbackene Baguettes, üppig belegt. Was mein Gegenüber trinkt, würde ich als weiteren Beweis ihres Humors bezeichnen: Lambrusco, flankiert von einem kleinen Cuba Libre. „Tölzer Rüscherl“ nennt sie den. Ich setze auf Bier.
Die Bavaria setzt auf das Internet. Denn dort baut sie sich mit einer hochunterhaltsamen Kombination aus tanzbarer Musik und mörderischem Mundwerk eine wachsende Fanbase auf. Was sie auf Instagram treibt, gleicht manchmal fast einem kabarettistischen Kanal. Auch wenn sie nicht singt, hat’s die Frau faustdick hinter den Ohren. In der Figur der Anja Bavaria macht sie auf dicke Hose, reißt derbe Witze und zelebriert den Alkoholkonsum, als sei sie ein alteingesessener Stammtischbruder. Rülps!
Was sich etwas platt liest, trägt durchaus feministische Züge. Anja Bavaria hält uns Männern augenzwinkernd, doch schonungslos den Spiegel vor. Indem sie sich die altbekannten, nicht tot zu kriegenden Stereotypen schnappt und umdreht, setzt sie uns einer Art verbalem Manspreading aus. Auf die Spitze treibt die Sängerin das Prinzip im bereits erwähnten „Bsuffn ohne Grund“. Der Song thematisiert, was fast jede Frau mit Instagram-Profil kennt: Nicht enden wollende Anbagger-Monologe von Männern, die hoffen, so bei den Adressatinnen landen zu können. Im Video fällt eine Horde Frauen bei so einem Würstchen ein und singt:
Wir kemman in dei Haus
Und san bsuffn ohne Grund
Tringan dein komplettn Schnaps
Machan Selfies mit deim Hund…
Kurioserweise, hat Anja festgestellt, gucken vor allem Männer dieses Video. Ob wir doch mit einer gewissen Selbstironie gesegnet sind? Oder verspüren wir angesichts der oberkörperfreien Kraftprotze aus „Wuid und frei“ einfach zu viel Neid, um auch jenes Video zu ertragen? Belassen wir’s bei dem Mysterium – und beenden wir den Abend im „Rocks off“.
Auch in dieser Bar wird Anja überschwänglich begrüßt. Ihr Musikwunsch lautet: Metallica. Während die Gitarrenriffs durch den Raum rabauken, schwärmt die 25-Jährige von Pumuckl. Auf den Kobold können wir uns sehr gut einigen als großen Philosophen. „Wir sollten alle viel mehr Kind bleiben“, findet die Bavaria, nun auch an einem Bier nuckelnd. Dann würden einige Menschen vielleicht nicht so viel Hass verbreiten, gerade im Internet…