Studium, Karriere, Großstadt – das war der Plan. Doch Steffi Wimmer fand ihre Bestimmung dort, wo sie sie nie vermutet hätte: in ihrer Heimat, dem Samerberg. Dort hilft sie nun mit, die Agrarwende voranzutreiben.
Wenn sie konzentriert nachdenkt, greift sich Stephanie Wimmer ins Haar, schnappt sich ein stattliches Bündel und legt es sich über die linke Schulter, um es unbewusst zu kneten und zu flechten. Es scheint, als nähmen mit dem Zopf auch ihre Gedanken Gestalt an. Vor ein paar Jahren, als sie in La Rochelle studierte, eine Hafenstadt an der westfranzösischen Atlantikküste, die einerseits den größten Jachthafen Europas beherbergt, andererseits durch ihre historische Architektur und ein buntes, geradezu mittelalterlich anmutendes Markttreiben besticht, muss sich Steffi oft solche Zöpfe geflochten haben. Nach Frankreich hatte es sie im Rahmen ihres Studiums verschlagen. Europäische Betriebswirtschaft, weil ihr der damit vorgezeichnete Weg lukrativ erschien (und der obligatorischeAuslandsaufenthalt dazugehörte). Normalerweise landen BWL-Absolvent:innen in einschlägigen Firmen und Berufen – warum also sitzt sie heute nicht bei McKinsey oder in der Deutschen Bank? Die Zeit in Frankreich habe einen umwälzenden Denkprozess in Gang gesetzt, erklärt Steffi bei einer Tasse Kaffee, zu der wir uns in Rosenheim verabredet haben, in einem Café, das früher mal eine regionale Rösterei war und infolgedessen gut passt zu dem Sinneswandel, den sie durchlaufen hat. An dessen Ende verwarf sie alle Karrierepläne, legte das Streben nach Status und Wohlstand zu den Akten und krempelte ihr inhärentes Wertesystem grundlegend um.
Lieber Markt statt Supermarkt
Leben wie Gott in Frankreich: Das bedeutete für Steffi, eine ganz neue Kultur kennenzulernen. Ob in La Rochelle oder während der Praktika in Bordeaux und Paris: Die Franzosen und Französinnen schienen viel mehr Wert auf ihre Gesundheit, auf ein bewusstes Leben, auf Nachhaltigkeit zu legen als unsereins. Den Einkauf ihrer Lebensmittel zum Beispiel, den zelebrierten sie geradezu. Lieber schlendern sie über einen kleinen Markt und beschnuppern und befühlen das frische, von regionalen Erzeugern stammende Obst und Gemüse, als dass sie die eingeschweißte, geschmacklose Grütze aus den Discountern kaufen, so Steffis Eindruck. Also denkt sie nach: Was läuft schief hierzulande, bei uns Deutschen? Warum wissen so wenige auf ähnlich bewusste Weise zu genießen? Warum blättern viele zwar gerne Unmengen an Kohle für ein fettes Auto hin, bei gesunden Lebensmitteln aber knausern sie? Wieso herrscht landauf landab eine Art Entfremdung zwischen Erzeuger:innen und Verbraucher:innen, zwischen Stadt und Land?
„Manchmal muss man etwas erst loslassen, um es schätzen zu lernen.“
Stephanie Wimmer, Agrar-Aktivistin
Bei der Suche nach Antworten landet Steffi zähneknirschend bei sich selbst. Geradezu leichtfertig hatte sie dem elterlichen, droben am Samerberg im Landkreis Rosenheim gelegenen Hof den Rücken zugekehrt. „Ich war früher null heimatverbunden“, gesteht sie – ebenso schonungslos wie nachsichtig, sie hat die Kurve ja noch gekratzt. Doch zunächst stellte sich die Situation so dar: Während sich der Bruder ohne viel Aufhebens in den kleinen Milchviehbetrieb erst helfend einbrachte, um ihn schließlich sogar zu übernehmen, wollte Steffi einfach nur weg. Was von der Welt sehen, gutes Geld verdienen. „Ist das nicht oft so“, sagt sie heute, „dass man etwas erst loslassen muss, um es schätzen zu lernen?“
Zurück in Deutschland trägt das Umdenken zwar langsam, aber stetig Früchte. Zugegeben, sie studiert fertig, setzt dem Bachelor sogar einen Master in „Digital Entrepreneurship“ obendrauf, doch ein aufwendiges Studienprojekt dreht sich schon um das Thema Landwirtschaft. Mit ein paar Mitstreiter:innen gründet Steffi ein Start-up. Die Idee hinter StadtLandGut: Firmen konnten Events wie Teambuildingmaßnahmen oder Weihnachtsfeiern auf Bauernhöfen durchführen und so in den Dialog mit der Landwirtschaft und den Bauersleuten treten. Dabei sollten sich die unterschiedlichen Welten nebenbei besser kennen und verstehen lernen. Das rund um Regensburg gesponnene Netzwerk wuchs rasch, die Idee kam gut an – bis die Pandemie dem Projekt ein jähes Ende bescherte. Wehmut? Fühlt sie keine. Das sei auch so typisch deutsch. Alles, was nicht durch die Decke geht, wird lieber als ein Scheitern empfunden, statt als wertvolles „Learning“. Der LinkedIn-Jargon passt, weil Steffi zu der Zeit noch zweigleisig fuhr. Während sie in Hamburg und in München ins Marketing sowie in die Unternehmensberatung hineinschnupperte, legte sie zuhause am Samerberg den Grundstock für ein neues Business. Eins, das zu jenen Werten passt, die im Grunde immer schon tief in ihr geschlummert hatten und die – vive la france! – nun endlich geweckt worden waren.
Vom Bienenstock zum Marktschwärmer
Zehn Jahre zuvor: 2010 wird in Frankreich die Initiative „La Ruche Qui Dit Oui!“ gegründet. Auf Deutsch: Der Bienenkorb, der ja sagt. Die Macher:innen traten an, ein nachhaltigeres Konsumverhalten zu fördern und eine fairere Wertschöpfung zu gestalten. Diese Grundgedanken mündeten in ein Projekt, das die digitale, die bäuerliche sowie die Welt von Konsument:innen zu verknüpfen versuchte. Vor diesem Hintergrund eröffnete 2011 in Toulouse die erste sogenannte Schwärmerei. Vom Prinzip her ein Online-Shop mit persönlicher Abholung, handelt es sich genaugenommen um ein Netzwerk, das sich aus regionalen Erzeugern, lokalen Pop-up-Märkten und Mitgliedern (alias Verbraucher:innen) zusammensetzt. Letztere kaufen direkt bei den teilnehmenden Erzeugern. Kosten für Zwischenhändler gibt es genauso wenig wie das Preisdumping, das große Supermarktketten gern veranstalten. Die Erzeuger bestimmen die Verkaufspreise ihrer Produkte selbst, nach bestem Wissen und Gewissen, und erhalten bis auf eine geringe Servicegebühr (für die technische Abwicklung sowie für die Organisator:innen der lokalen Schwärmerei) die kompletten Erlöse. Als Steffi in Frankreich studiert, verteilen sich schon über 700 jener Schwärmereien über das ganze Land. Auch in La Rochelle shoppen die Menschen auf diese Weise. 2014 war das Erfolgsmodell auch in andere europäische Länder übergeschwappt, darunter Deutschland, wo es zunächst unter der Bezeichung „Food Assembly“ firmierte. Später wurden die „Marktschwärmer“ daraus.
Die Marktschwärmer:
2024 zählte die Initiative diesseits des Rheins 200.000 Mitglieder, über 3.000 teilnehmende regionale Erzeuger und mehr als 100 Schwärmereien – zwei davon betreibt Steffi. An die Phase der endgültigen Abkehr von jener „Konzept-Klopperei“, die man in ihrer ursprünglichen Branche halt so betreibt, erinnert sie noch gut. An den Frust, den sie verspürte, wenn wieder mal eine an sich coole Idee in der Schublade verschwand, weil ominöse Unternehmensstrukturen eine Umsetzung verhinderten; oder, noch schlimmer, weil sich ein sogenanntes Nachhaltigkeits-Konzept als reine Schönfärberei entpuppte, als Nebelkerze, als reine PR-Maßnahme, also nichts, was jemals wirklich das Licht der Welt erblicken soll.
In dieser Stimmung sei sie eines Tages im Home-Office gehockt, habe durchs Fenster hinaus auf den Samerberg geblickt und sich gefragt: „Was zur Hölle mache ich da eigentlich? Lebe mitten im Paradies, aber anstatt hier etwas voranzutreiben, zu helfen, das alles zu erhalten, glotze ich in den Laptop und helfe schlimmstenfalls Unternehmen beim Greenwashing.“ Steffi beschließt, erstens fest in der Region zu bleiben; und zweitens etwas für die Region zu tun. Im Dezember 2020 ruft sie die erste Marktschwärmerei im Landkreis Rosenheim ins Leben. Fleisch, Kartoffeln, Käse, Eier, Gemüse, Öle, Fisch, Backwaren, Spirituosen, sogar Kosmetikprodukte kann man erwerben, alles in Direktvermarktung. Das garantiert kurze Wege, höchste Qualität, totale Transparenz, faire Preise – und nicht zuletzt ein fast frankophiles Einkaufserlebnis. Und wie das oft so ist, wenn mal ein Stein ins Rollen gerät: Plötzlich nahm Steffis „Umkehr“ Fahrt auf.
Öko-Modellregionen sind ein zentraler Baustein des Landesprogramms BioRegio 2020, das 2013 vom Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ins Leben gerufen wurde. Sie sollen das Vorhaben unterstützen, den Anteil ökologisch bewirtschafteter Fläche bis 2030 auf 30 Prozent anwachsen zu lassen. Gleichzeitig, so der Plan, sollen sie helfen, die steigende Nachfrage nach regional produzierten, ökologischen Lebensmitteln zu decken und das Bewusstsein der Bevölkerung für regionale Kreisläufe und eine nachhaltige Landwirtschaft zu stärken. Wie dieses hehre Vorhaben mit jener ominösen Allergie des bayerischen Ministerpräsidenten zusammenpasst, der ihn vor allem und allen zurückschrecken lässt, die Nachhaltigkeit leben oder fördern wollen, sei einmal dahingestellt – faktisch läuft das Projekt; und zahlreiche Kommunen setzen im Rahmen jener Öko-Modellregionen eine Vielzahl von Projekten um – vom Auf- und Ausbau regionaler Bio-Wertschöpfungsketten über Vermarktungshilfen bis hin zu Bildungsmaßnahmen. Eine dieser bayernweit 35 Öko-Modellregionen ist die ÖMR Hochries-Kampenwand-Wendelstein – Steffis Heimat. Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn sie nicht dort gelandet wäre. Vielleicht kann man es als eine Art versöhnliche Ironie des Schicksals verbuchen, dass sie die im Studium gewonnen Fähigkeiten nun bei etwas wirklich wertvollem einsetzen darf, als Managerin für den Dialog zwischen Landwirtschaft und Verbraucher:innen sowie in der Bewusstseinsbildung. Nein, nichts Spirituelles! Es geht ihr darum, Verständnis zu schaffen. Den Leuten zu erklären, mit welchen Herausforderungen die Landwirtschaft zu kämpfen hat heutzutage. Zu zeigen, dass die meisten Landwirte sich echt reinknien, zu unser aller Wohl und in einem System, das krankt.
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Auf der anderen Seite gilt es, die Landwirte in ihrer bedeutenden Rolle zu unterstützen, unsere Kulturlandschaft zu erhalten, für eine saubere Umwelt sowie für gute, gesunde Lebensmittel zu sorgen. Für Steffi könnte es keine schönere Aufgabe geben. Zumal sie ihrer Kreativität ganzen Lauf lassen kann. Mal organisiert sie eine Filmvorführung mit Diskussion in einem Rosenheimer Kulturzentrum, mal moderiert sie in Neubeuern einen Stammtisch zum Thema Solidarische Landwirtschaft, mal versorgt sie rund 800 Kinder an 16 Schulen in der ganzen Region mehrere Wochen lang mit gesund gefüllten Brotzeitboxen. Klar, Steffi ist auch in dieser Doppel-Rolle als Marktschwärmerin und ÖMR-Dialog-Managerin oft „busy“, nur stresst sie sich heute eben für eine gute Sache, das fühlt sich dann nicht auslaugend, sondern inspirierend und sinnstiftend an. Also kein existenzielles Zöpfe-Flechten mehr nötig? „Nun ja“, sagt sie grinsend, „bald soll in Prien die nächste Schwärmerei starten, auch unter meinen Fittichen.“ Passenderweise in einem Concept Store für nachhaltige und faire Mode.
Vielleicht ist es das, was Steffi antreibt: Fäden zusammenzuführen, wie beim Zöpfe-Flechten, und daraus etwas Neues, Nachhaltiges zu erschaffen. Während sich andere in der Hektik des Alltags verheddern, webt sie Verbindungen – zwischen Land und Stadt, Erzeugern und Verbrauchern, Tradition und Innovation.