Als der Maler Friedrich August von Kaulbach beim Deutschen Bundesschießen auf der
Theresienwiese im Jahr 1881 sein berühmt-berüchtigtes Gemälde der „Schützenliesl“ auf einer Schützenscheibe präsentierte, dienten Frauen im Wirtshaus oder dem Schützenheim allenfalls als frivole Animierdamen. Heute stehen vielen Vereinen Schützenmeisterinnen voran. Und Frauen wie Veronika Stürzer stehen nicht Modell, sondern auf der anderen Seite der Staffelei.
Es gibt vielerlei Arten, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Die einen graben sich durch Bücher, die anderen durch den Erdboden, Veronika Stürzer schließlich hat eine (kunst-)handwerkliche Herangehensweise gewählt. Ursprünglich hatte die Gaißacherin eine Ausbildung zur Kirchenmalerin und Vergolderin absolviert, in einem örtlichen Familienbetrieb. Und an und für sich gab es nichts auszusetzen an dem Job, den sie gern mochte, weil er nie langweilte und die Kollegen freundlich waren. Andererseits kann es kühl sein in alten Kirchen und konnte es unheimlich nerven, wochenlang Morgen für Morgen auf eine Baustelle ins tiefste Allgäu zu gurken und Abend für Abend wieder zurück. Da steht man manchmal mehr im Stau als auf dem Gerüst. Als Mama Stürzer die Tochter eines Tages auf eine Stellenanzeige aufmerksam machte, schickte Vroni deshalb eine, wie sie sagt, allenfalls halbherzige Bewerbung los. Halbherzig, doch überraschenderweise erfolgreich. Das Deutsche Museum in München hatte Mitarbeiter für seine Werkstätten gesucht. Und der Zeitpunkt für den Wechsel, zeigt sich heute, hätte perfekter gar nicht sein können.
Die 1903 von Oskar von Miller gegründete Institution gilt mit ihrer rund 45.000 Quadratmeter umfassenden Ausstellungsfläche als größtes und bedeutendstes naturwissenschaftlich-technische Museum der Welt. Die Ausstellungen decken eine unvergleichliche thematische Bandbreite ab: von der Astronomie bis zur Nanotechnologie, von der Meeresforschung bis zum Bergbau, von pharmazeutischen bis hin zu Musikinstrumenten. Doch das Deutsche Museum sieht seinen Daseinsgrund nicht nur im Ausstellen, sondern auch im Bewahren bedeutender Kulturgüter; und so gesellen sich zu den schon heute weit über 100.000 Exponaten alljährlich gut tausend hinzu. Derzeit durchläuft die Ausstellungsstätte eine beispiellose Phase der Modernisierung und Expansion. So soll die geplante Nürnberger Dependance Themen wie Science Fiction, Visionen und Innovationen beleuchten. Parallel werden bis zum Jahr 2025 über 50 Ausstellungen völlig neu konzipiert oder aktualisiert – nicht zuletzt für Vroni und ihre Kolleginnen ein vielseitiges Füllhorn an Aufgaben. Schließlich sind es die Werkstätten des Museums, wo unter anderem die detailgenauen Dioramen entstehen, die Mitmach-Experimente erdacht und umgesetzt sowie alle möglichen Exponate restauriert werden – vom Gemälde über die mannshohe Golem-Figur bis hin zum Anstrich eines ganzen Flugzeugs.
Die Pinsel legt die Schützenscheiben-Malerin in ihrer Freizeit nicht aus der Hand
Zurück im Isarwinkel. Mit ihrem Mann ist Vroni inzwischen von Gaißach ein paar Kilometer weiter nach Norden gezogen. In Warngau, das etwa mittig zwischen der A8 und dem Tegernsee liegt, wohnt das Ehepaar auf einer spärlich bebauten Anhöhe, umringt von Wald und Wiese. Im Erdgeschoß betreibt Thomas eine Schreinerei, oben im Wohnzimmer hat sich Vroni eine Ecke als Atelier eingerichtet. Die Pinsel legt sie auch in der Freizeit nicht aus der Hand. Beäugt von Bud Spencer, der als riesiges Gemälde an der Wand prangt, hat sich die 32-Jährige in den letzten Jahren ein zweites Standbein aufgebaut. Eine Bekannte, die von Vronis Kunstfertigkeit wusste, hatte gefragt, ob eine Kirchenmalerin und Malermeisterin nicht in auch in der Lage wäre, eine blanke Schützenscheibe zu verzieren. Bis zu jenem Tag hatte Vroni nichts am Hut gehabt mit dem Schützenwesen und seinen Bräuchen. Sie half aber gerne und zauberte wie gewünscht einen Hai mit Tuba in den Flossen auf die Holzscheibe. Zugegeben, ein eher kurioses Motiv. Doch grundsätzlich begibt sich Vroni mit ihrer zweiten Passion gar nicht so weit weg vom eigentlichen Metier, von Kunst und Geschichte. Die aufwendigen Verzierungen alter Waffen, die Kunst der Fahnenstickerei und Trachtenschneiderei, die Genialität der Juweliere, Gold- und Silberschmiede, die sich beim Anfertigen der mächtigen Halsketten der Schützenkönige gegenseitig übertreffen sowie nicht zuletzt die Tradition der Scheiben- und Porträtmalerei haben seit dem Mittelalter die bürgerliche und die Volkskunst in Deutschland mit geprägt und dazu beigetragen, dass die UNESCO das „Schützenwesen“ zum immateriellen Kulturerbe des Landes erklärte.
Wenn etwas eine so lange Tradition aufweist, setzt es mitunter – wenn auch unbeabsichtigt – Staub an. Wer die Schießstände der bayernweit rund 4.700 Schützenvereine abklappert, um die dort oft die Wände zierenden Schützenscheiben zu betrachten, wird nicht umhin kommen, eine gewisse Eintönigkeit festzustellen: Fuchs und Has’, Folklore und weiß-blaues Idyll überwiegen. „Ich bringe da frischen Wind rein“, sagt Vroni und scheint damit bei den Schützen ins Schwarze zu treffen. So eine Ehrenscheibe, die bei wiederkehrenden Veranstaltungen eines Vereins (wie Neujahrsschießen, Nikolausschießen oder allen voran dem Königsschießen) gestiftet wird, dient der Künstlerin als perfekte Visitenkarte. Denn am Rand werden der Spender sowie der Sieger verewigt – und Letzterer stiftet traditionell die nächste Scheibe. Wenn die gewonnene gefällt, hagelt es gleich den nächsten Auftrag.
30 bis 40 Stunden investiert Vroni pro Schützenscheibe
„Die Motive meiner Scheiben sollen eine Verbindung haben, zu dem, der sie bestellt“, sagt Vroni, „und im Idealfall auch dem unbekannten Sieger gefallen.“ Damit das gelingt, versucht sie nicht nur, möglichst kreative Motive auszuwählen. Sie arbeitet auch unheimlich detailversessen und akurat. Bevor sie nicht zufrieden ist, verlässt keine Scheibe die Staffelei! Da ziehen schon mal zwischen 30 und 40 Stunden ins Land von der ersten Grundierung über das Setzen der Konturen bis hin zum Auftragen vieler, vieler Farbschichten. Mit Lasuren arbeite sie, erklärt Vroni, weil sie nur so die notwendige Tiefe erzeuge, die ein möglichst lebensechtes Gesicht nun mal verlange. „Die menschliche Haut oder das Blatt eines Baumes bestehen ja auch aus Schichten!“ Bevor sie die heutige Arbeitschicht beendet, setzt sie noch ein paar Highlights mit wasserfesten Buntstiften. Ein lebendiges Funkeln in die Augen von Michael, dem Schutzpatron der Soldaten. Damit, hofft sie, wird sich die gesamte Kompanie identifizieren können.
Apropos identifizieren: Noch schießt Vroni nicht selbst. Aber das Schild, das draußen an der Straße den Weg zum nahen Schützenverein weißt, das hat sie durchaus schon als zarten Wink des Schicksals verstanden. Bestimmt wird man die heimische Schützenscheibenmalerin mit offenen Armen empfangen – der Schützengesellschaft steht eine Frau voran.
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