Johannes Sift ist dem Zauber der Volksmusik verfallen. Der unverfälschten, ursprünglichen. Ihr spürt er nach, um ihr in verschiedenen Gruppierung zu neunen Weihen zu verhelfen.
Letzte braune Blätter klammern sich an die Zweige der Obstbäume, die schwache Morgensonne wärmt Ende November nicht mehr so recht. Umso willkommener die Wärme, die uns empfängt, als wir das oberhalb des Sees gelegene Bauernhaus betreten. Johannes hat bereits den Kamin eingeheizt, Kaffee in die Espresso-Kanne gefüllt und einen übervollen Teller mit Brezen und Lebkuchen bereitgestellt. „Du kannst die Schuhe anlassen. Oder soll ich dir Hausschuhe geben?“, fragt der vollendete Gastgeber und bittet ins Wohnzimmer, das gleichzeitig das Musizierzimmer ist. Urgemütlich ist es hier in dem kleinen Raum mit der gemaserten Holzdecke, dem grünen Kachelofen und den Fenstern, die den Blick auf den herbstlichen Garten am Rande von Dießen am Ammersee freigeben. Und sehr ordentlich.
Das allerdings soll sich im Laufe des Vormittags ändern. Irgendwann werden die Instrumentenkoffer aus ihren Verstecken unter Tischen und Kommoden hervorgeholt, Notenhefte auf dem Couchtisch verteilt und zwei wunderschöne Harmonikas, eine helle, eine schwarze, in Gebrauch sein. Besonders dann, wenn Worte nicht mehr reichen und Johannes lieber die Melodien sprechen lässt, um den Zauber der Volksmusik zu demonstrieren. Dabei schlägt Johannes Sifts Herz nicht nur in Zwei, Drei- und Viervierteltakten für die über Jahrhunderte tradierte Musikrichtung, er möchte sie auch befreien von all den Vorurteilen, die ihr zuletzt der Musikantenstadl mit seinem Kommerz und Klamauk eingebrockt hat, und davor – noch viel ärger – der propagandistische Missbrauch durch die Nazis im Dritten Reich.
„Volksmusik ist Gebrauchsmusik, die die Menschen über Generationen hinweg verbindet. Man kann sie zu jedem Anlass spielen, von der Beerdigung bis zur Hochzeit, als Hausmusik zum gemeinsamen Musizieren mit der Familie oder als Tanzmusik auf der Bühne“, sagt Johannes.
Die Musik rief ihn mit sieben
Seine erste Diatonische Harmonika hielt der 37-Jährige vor 30 Jahren in der Hand. „Meine große Schwester hatte damit begonnen und ich als Siebenjähriger wollte das unbedingt auch lernen. Sie hat irgendwann damit aufgehört, ich bin drangeblieben,“ sagt der Mann mit dem akkurat gestutzten Bart. Zum Glück, denn so hat sich über die Jahre aus dem kleinen Exoten – „alle meine Freunde haben Fußball gespielt, ich musizierte“ – ein Experte auf dem Gebiet der Steirischen Harmonika, der alpenländischen Volksmusik und vor allem auch für alte Notenhandschriften entwickelt. Mit wechselnden Formationen, allen voran den Bands Landlerdelirium, Quetschendatschi und der Kapelle Massanari, tritt Sift auf Volks- und anderen Festen in Oberbayern und Schwaben auf. In den letzten Jahren hat er mehrere CDs auf den Markt gebracht. Darunter „Knopfdruck“, auf der Stücke aus der bayerischen, fränkischen und schwäbischen Volksmusik sowie Eigenkompositionen vereint sind. Oder „Schwäbische Großtanzformen“, auf denen sich Francaisen, Achtertänze sowie Walzer aus der Feder des Kapellmeisters Wendelin Massanari befinden, der die Tanz- und Blasmusik Anfang des 20. Jahrhunderts in Augsburg und Umgebung geprägt hat.
Ein Ausflug in die Sprachwissenschaften
Auch Sift ist Schwabe. Geboren in Haunstetten bei Augsburg wuchs er in Klosterlechfeld auf, ging in Schwabmünchen zur Schule und studierte in Augsburg Deutsch und evangelische Religion auf Lehramt. Aber obwohl ihn die Musik seit früher Kindheit begleitet hat, er lange mit seinem Vater, der das Tenorhorn blies, musizierte und schon mit 17, 18 Jahren die ersten Kompositionen schrieb, liefen die Sprachwissenschaften seiner ersten großen Lieben zeitweilig doch den Rang ab. Johannes begann, in Erlangen über sächsische und siebenbürgische Dialekte zu promovieren. Womit sich der junge Mann über die komparative Linguistik einem Erbe annäherte, das ihn unter der Oberfläche mehr zu beschäftigen schien, als ihm bewusst war: Seine Familie zählt zur deutschstämmigen Bevölkerung Siebenbürgens, die seit dem 12. Jahrhundert in den rumänischen Karpaten siedelte. 1970 zwangen die Repressalien des Kommunismus und wirtschaftliche Nöte seine Eltern Siebenbürgen den Rücken und in die Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren. Erst viel später besuchte Sift Siebenbürgen und ernte das Land seiner Ahnen (und sich selbst) besser kennen. Doch das ist eine andere Geschichte.
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Lieber Musik als Promotion
Der Ruf der Musik in Johannes‘ Leben tönte schließlich lauter als der mögliche künftige an einen Lehrstuhl und so ließ er seine Promotion unvollendet, um stattdessen das Angebot des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege anzunehmen. Zwei Jahre lang kümmerte er sich hier um die Sparte Volksmusik. „Wir haben Lehrgänge und Seminare veranstaltet, um den Menschen die Tradition und den Wert der Volksmusik für unser heutiges Leben zu vermitteln“, erklärt Sift. Da er aber in jener Zeit weniger denn je selbst zum Musizieren gekommen sei, schwenkte Johannes erneut um: Er ließ sich im Rahmen einer Sondermaßnahme des Kultusministeriums zum Deutschlehrer für Berufsschulen ausbilden. Das nachgeholte Referendariat in der Tasche, fährt Johannes bis heute zweigleisig und kombiniert seine Bemühungen um die Jugendlichen an der Berufsschule in Landsberg mit seinem musikalischen Nebenerwerb. Harmonika, Geige und, seit er sich 2019 beim Musikfestival „La notte de la Taranta“ in Apulien in
die Tarantella-Musik schockverliebt hat, auch das Tamburello gehören zu Johannes‘ festem Repertoire.
Auf dem alten Hof am Westufer des Ammersees, den die Urgroßeltern seines Lebensgefährten Magnus Kaindl errichtet haben, kann der Musiker durchschnaufen und Energie sammeln. Auch für die gemeinsamen Projekte, die Johannes Sift und Kaindl, seines Zeichens Bereichsleiter Volkskultur in München sowie Brauch- und Volksmusikpfleger in Landsberg, seit einiger Zeit am Laufen haben: Sie veranstalten Tanzkurse in München und Umland, in denen die Menschen die Lust an alten Tanzformen, Zwiefachen, Rundtänzen wie Walzer, Polka und Boarischens und vielen anderen Figurentänzen wieder neu entdecken. Dass der Tanzmeister und der Ziach-Spieler im Kosmos Volksmusik zueinander finden würden, war nur eine Frage der Zeit. Gefunkt hat’s dann vor zehn Jahren auf dem Münchner Kocherlball, auf dem Vortänzer Kaindl in aller Herrgottsfrüh den Besuchern Tanzbeine macht.
Johannes Sift: „Volksmusik muss man fühlen“
Johannes hängt sich den Tragegurt seiner Diatonischen Harmonika aus Ebenholz um den Hals und legt die Fingerspitzen seiner rechten Hand auf die runden Knöpfe der Diskantseite, die die Melodien hervorbringt. Die Finger der linken Hand setzt er auf die Knopfreihe für die Basslinie. „Die Diatonische oder Steirische Harmonika ist wechseltönig. Es entstehen also wie bei der Mundharmonika Töne auf Druck und Zug“, erklärt unser Gastgeber, bevor die Fröhlichkeit eines Hochzeitswalzers, den er mal für Freunde komponiert hat, das Wohn- und Musikzimmer erweckt. „Bei Tanzmusik spiele ich nicht Noten“, versucht uns Johannes die Natur der echten Volksmusik zu vermitteln, „das ist wie beim Erwerb der Muttersprache, da lernt man auch keine Texte auswendig, sondern die der Sprache zugrundeliegende Grammatik. Das Kind wendet die Sprache nach dem Vorbild der anderen an. Auch Volksmusik wird von mensch zu Mensch tradiert. Nur dadurch erlangt der Musikant die Kompetenz, Melodien zu verstehen, zu durchdringen und zu variieren. Und nur durch das Empfinden, dass hier etwas über eine lange Zeit gewachsen ist, kann Volksmusik authentisch und tief sein und ihren mitreißenden Sog entfalten.“ Da könne jemand noch so ein Weltklassestar sein und doch reiche seine ganze Ausbildung nicht aus, um Volksmusik zu spielen, wenn ihm das Gefühl fehle, ist Johannes überzeugt.
Alte Weisen neu interpretiert
Viel Gefühl ist auch vonnöten bei seinem Herzensprojekt, das ihn bis tief ins 18. Jahrhundert führt. Der Komponist spürt alte Notenhandschriften auf (in Archiven, auf Flohmärkten, inzwischen finden die Schriften aber auch auf persönlichen Wegen zu ihm) und interpretiert sie neu. Die älteste aus dem Jahr 1750 stammt aus Ziemetshausen und ist ein faszinierendes Zeugnis dessen, welche Melodien in dieser Zeit auf Tanzböden in Bayerisch-Schwaben gespielt wurden. „Das Spannende an diesen Handschriften ist, dass in ihnen meist nur die Hauptmelodie notiert ist. Alle weiteren Stimmen wurden allein durchs Spiel überliefert“, sagt Johannes. Dieser Umstand aber eröffne ihm und der Landlerdeliriern Evi Heigl, Lucia Wagner und Artul Barth erst den Freiraum, die alten Stücke mit neuem Leben zu füllen, ins Jetzt zu übertragen und sogar mit Instrumenten zu interpretieren, die erst lange nach Niederschrift der alten Weisen erfunden wurden, wie etwa Lucias Sopransaxophon. Auch die Harmonika sei viel jünger, als viele glaubten, erklärt Johannes, viel jünger als etwa die Geige. Erst 1829 hat Orgelbauer Cyrill Demian in Wien das Patent für das erste Akkordeon eingereicht. Der stammte übrigens aus Siebenbürgen, womit sich die zwei Lebensgeschichten des Johannes Sift zu einer zusammenschließen.
Mehr Informationen zu Johannes, seiner Musik und seinen Projekten: www.johannes-sift.de