Mit Liebe, Geschick und den guten Gaben der Natur fertigt eine Familie als „Naturhandwerkerei“ allerhand Dinge, die nicht nur ihr selbst Freude bereiten.
Fotos: Andreas Jacob, privat
Die Tiroler Ache entspringt in den Kitzbühler Alpen. An der Grenze zu Bayern schlüpft sie durch die Entenlochklamm. Bevor sie sich (in einem für mitteleuropäische Verhältnisse beeindruckenden Binnendelta) in den Chiemsee ergießt, schlängelt sich der Alpenfluss durchs Achental. Und dass er da nicht einfach stehenbleibt und staunt, zeugt von seiner unbändigen Disziplin – beziehungsweise in Wirklichkeit natürlich vor allem von den Kräften der Physik. Trotzdem: Dieser Landstrich inmitten der Chiemgauer Alpen bildet ein Naturparadies, das fast zu schön ist, um wahr zu sein.
Naturparadies Achental
Allein das Gebirge: Der Geigelstein (zweithöchster Gipfel auf bayerischer Seite) trägt nicht von ungefähr den Spitznamen als „Blumenberg“. Über 700 Farne und Blumenarten kann hier zählen, wer genug Zeit und Muse mitbringt. Der Hochgern protzt nicht nur mit einem doppelten (sowie Miniatur-Kapelle auf dem östlichen) Gipfel, sondern auch mit einem Chiemsee-Panorama zum Steinerweichen. Oberhalb von Oberwössen, einer der vier Ortschaften des Achentals, liegt mit dem Taubensee der höchstgelegene See Deutschlands; und im weiteren Umkreis eines der größten zusammenhängenden Almengebiete des Landes, inklusive seiner schier überbordenen Flora aus Kräutern und ebenso seltenen wie (Finger weg!) geschützten Alpenblumen. Arnika, Alpen-Wundklee, Blutwurz, Alpenglöckchen, Silberdistel oder Frühlings-Enzian erspäht, wer Auge und Ahnung hat.
Nasrin Gottschalk, mit haselnussbraunen Augen und kastanienbraunem Haar beschenkt, gehört zu jenen Menschen, die sich gar nicht satt sehen können an diesen Wundern der Natur. Sie und ihr Ehemann Stefan sind zwar erst 2017 aus Neumarkt in der Oberpfalz ins Achental gezogen, haben sich aber schneller eingelebt, als man „Lackenbergwand“ sagen kann. Der ragt, neben Rauher Nadel und Rechenberg, nicht unweit des Hauses mit dem liebevoll angelegten Garten in den Oberwössener Himmel.
Ein Teich, ein auf einem Felsbrocken angelegtes Kräuterbeet, viele Büsche und Bäume sowie – hauchzart hangabwärts gelegen – eine Art halboffener, überdachter Unterstand fallen ins Auge. In seinem Inneren, direkt vor dem Fenster, steht ein robuster Holztisch, umringt von gewaltigen Metallkörben, in denen sich unterschiedlichste Zweige stapeln. Ein ausrangierter Holzschlitten darf ein zweites Leben als Regal führen. Draht, Schnur, kleine Gartenscheren, Drahtscheren und das eine oder andere Zänglein warten auf ihren Einsatz.
Kranz mit Krickerl
Von einem Balken oberhalb der Fenster baumelt ein Kranz aus Nadelbaumzweigen. Er weist den Raum seiner Aufgabe zu. Hier unten steht Nasrin zu jeder Jahreszeit und bindet Kränze. Adventskränze, Frühlingskränze, Herbstkränze; Tischkränze, Türkränze, Fensterkränze; große Kränze, kleine Kränze; runde Kränze, Kränze in Herzform. Wenn sie zu Besuch kommt, hilft Schwiegermama Claudia mit, die das „Kranzlbinden“ daheim in Neumarkt schon seit Jahrzehnten zelebriert und Nasrin mit ihrer Herangehensweise begeistert hat. So wie es nun auch Nasrin tut, hat Claudia schon immer nur selbst gesammelte, teils vogelwild kombinierte Materialien verarbeitet. Zweige und Koniferen aus dem eigenen Garten oder aus Waldstücken von Freundinnen und Bekannten, Federn, Beeren, Krickerl von Gatte Manfred … Moment! Die Geweihe von Rehböcken, in einem Kranz? „Ja, freilich“, sagen die beiden Damen grinsend.
Solche und ähnliche kreative „Anwandlungen“ haben dafür gesorgt, dass aus einer familiären Freizeitbeschäftigung die „Naturhandwerkerei“ geworden ist – eine Art Familienbetrieb, in dem im Grunde einfach alle ihrem jeweils persönlichen Hobby nachgehen, nur dass die Ergebnisse inzwischen auch verkauft werden. In ein paar Läden im Achental, über die Online-Plattform Etsy und – wenn es Zeit und „Warenbestand“ zulassen – auf ausgewählten Märkten. Letzteres ist der Familie wichtig. Das Ganze soll ihnen nicht über den Kopf wachsen, soll nicht von der gemeinschaftlichen Freude am Handwerk zu einer kommerziellen Pflichtveranstaltung werden!
Spaziert man einmal Haus herum, landet man an einem kleinen Schuppen. An der südseitigen Wand steht ein Holzbankerl, auf dem Claudia bei Sonnenschein gerne Platz nimmt und ihre Stricksachen auspackt. Dann blinzelt sie in die Sonne, fertigt kuschlige Trachtensocken (die je nach Lust und Laune im Shop oder an den Füßen der Familie landen) und klappert so lange mit den Nadeln, bis die beiden Männer drin, im Schuppen (der längst zur Werkstatt befördert wurde), ihre Maschinen anwerfen.
Auch ein tolles Handwerk: Papierretten
Ein unter dem Gewicht von Werkzeugen und Geräten ächzendes Holzregal, ein rostiger Kaminofen, um darauf winters Tee zu kochen und der Kälte zu trotzen, eine lange Werkbank sowie haufenweise Holz und Geweih bevölkern den Raum. Nasrins Mann Stefan verbringt hier so manchen Feierabend und gleicht den Arbeitsstress aus, indem er mit Holz hantiert. „Das ist ein ehrliches, warmes Material, und damit zu arbeiten hilft ‘runterzukommen“, sagt er. Dann wirft er den Bohrer an und fräst Löcher in ein gräulich schimmerndes, sonnengegerbtes Stück Holz.
Ein Zaun sei das mal gewesen, erzählt er, den er ergattert habe, um daraus ebenso herzige wie urige Klorollen-Halter zu bauen. Den Prototyp hat er seiner Nasrin geschenkt, die das herkömmliche Zeug aus dem Laden fad fand. Klorollenhalter – das mag zunächst wenig romantisch klingen, doch die Konstruktion erinnert an den Abort einer Almhütte – niedliches Guckloch in Herzform inklusive. Ein Renner im Shop. Zusätzlich stellt Stefan auch Kerzenständer, Vogelhäuschen und naturbelassene Altholzdeko her.
Wenn der Vater mit dem Sohne…
Bei den Kerzenständern muss der 35-Jährige nur aufpassen, Papa Manfred nicht in die Quere zu kommen. Der steht mit seinen 63 Jahren „zum Glück kurz vor der Rente“. Er sieht dabei zehn Jahre jünger aus, mit den lässig zusammengebunden Haaren über den rasierten Schläfen, mit der silbernen Bartperle, die sein Ziegenbärtchen bändigt. Wenn er „im Lande“ ist, steht er linkerhand an der Werkbank, wo er mitunter ebenfalls Kerzenhalter macht – nur nicht aus Holz, sondern aus Horn. Hirschhorn, Gamshorn, Rehgehörn – kaum zu glauben, was man aus diesen Stangen alles herstellen kann.
Manfreds Ideenreichtum scheint unerschöpflich. Sein Repertoire umfasst Schnapsgläser mit verbautem Rehgehörn, Stamperl- Bars für Stammtische oder die gesellige Runde zuhause, Weinglashalter („eine diffizile Arbeit“, grummelt er), Rumfässer (quasi ein in Horn eingefasster Flachmann mit versenktem Deckel, dem Manfred gerne Edelweißknöpferl aufsetzt), Serviettenringe, Flaschenöffner mit Gamskrucke, Flaschenverschlüsse, Gartenstecker… „Meine Philospohie ist es, das Horn komplett zu verarbeiten, ich will nichts wegwerfen.“
Apropos wegwerfen: Vor diesem Hintergrund hat das alles Zuhause in Neumarkt überhaupt erst angefangen. Rückblick: Der Bruder eines Freundes war verstorben, ein paar Jahre ist das her. Wie das offenbar so ist, in einem „Jägerhaushalt“, hatten sich bei dem Verstorbenen im Laufe der Zeit rund 80 Rehgehörne angesammelt. Wäre es nach dem Freund gegangen, wären die allesamt auf dem Müll gelandet. Zumal das Zeug einen Gestank verströmte wie tausend ungeleerte Aschenbecher. Ja, auch unter Jägern soll es Kettenraucher geben. Manfred fand die Sammlung trotzdem zu schade, um sie in die Tonne zu treten. Also packte er den ganzen Haufen ein, nahm ihn mit nach Hause und vollführte zunächst eine umständliche Reinigungsprozedur. Um danach vor der Frage zu stehen: „Was machst du denn jetzt damit?“ Immerhin, für ein Exemplar hatte er schnell Verwendung.
Lederhosenmesser war erstes Produkt
Schon immer hatte Manfred den Wunsch gehegt, sich einmal eigenhändig ein Lederhosenmesser zu bauen. Das Resultat steckt noch heute in der Hosentasche. Er benutzt es Zuhause zum Brotzeitln. „In der Öffentlichkeit darf man es ja nicht mehr dabei haben“, sagt er und zwinkert vieldeutig. Long Story short: Aus einem Messer wurden viele. Aus einem Produkt diese stetig anwachsende Pallette. Bis Nasrin irgendwann sagte: „So, Schluss mit dem stillen Kämmerlein! Die ganze Familie stellt lauter tolle Sachen aus der Natur her, das muss doch mal der Öffentlichkeit präsentiert werden!“
Premiere war der Grasssauer Christkindlmarkt, anno 2019, und der Familienstand der neugeborenen „Naturhandwerkerei“ ein durchschlagender Erfolg. Die Kränze, Holzhandwerkereien und ein paar kulinarische Raritäten wie Marmeladen aus der Kor- nelkirsche oder Schlehensirup gingen weg wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Und so werkelt das Quartett inzwischen zwar immer noch mit dieser Seelenruhe; mit Materialien, die ihm Feld, Wald und Garten schenkt. Nur, dass Nasrin, Claudia, Stefan und Manfred halt nicht mehr nur sich selbst, sondern auch anderen eine Freude damit machen. Einzige Ausnahme: Der Adventskranz aus den Hände von Töchterchen Lena. Der ist unverkäuflich!
Zum Etsy-Shop