Die Abgeschiedenheit, der mangelnde Komfort, die Launen des Wetters, die körperliche Anstrengung: Leben und Arbeiten auf einer Alm ist kein Zuckerschlecken. Und doch haben zwei Frauen in ihrem Buch über Chiemgauer Almen ein titelgebendes Phänomen aufgespürt: den „Almfrieden“.

Fotos: Carina Pilz, Andreas Jacob

Der Almsommer beginnt im Tal, bei Finsternis und Stille. Eine Stille, die nach und nach vom Geläut der Kuhglocken durchbrochen wird, die eine scheppernde Sinfonie anstimmen – je lauter, desto mehr Tiere Senner Simon und seine Helfer*innen, die sogenannten Treiber, zusammenscheuchen. Es ist der Morgen des 7. Mai 2022 – der Tag des Almauftriebs hier in Schleching. Mit den Sennerleuten der Vorderen Dalsenalm sind auch Kerstin Elisabeth Riemer und Carina Pilz in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um der jahrhundertealten Tradition aus nächster Nähe beizuwohnen.

Auch für die beiden jungen Frauen nimmt an diesem Tag ein besonderer Almsommer seinen Anfang. In den folgenden Monaten werden die Autorin (Kerstin) und die Fotografin (Carina) 14 Chiemgauer Almen abklappern. Das Ziel: eintauchen in das mühselige, mitunter einsame, wie sich herausstellen wird jedoch auch zutiefst bereichernde Leben im Einklang mit der Natur; die Menschen, die sich für so ein Leben entschieden haben, kennenlernen; ihre Motivation, ihre Gedanken, ihre Tagesabläufe.

Carina Pilz (sitzend) und Kerstin Elisabeth Riemer, denen die Freude über das gemeinsame Buch ins Gesicht geschrieben steht.
Fotos: Andreas Jacob

Die gesamte Bandbreite bayerischer Almen

Auf dem Zettel stand die gesamte Bandbreite an Almen, die man heutzutage in den Chiemgauer Alpen vorfindet. Von eher ursprünglich belassenen, abseits gelegenen landwirtschaftlichen Betrieben wie der Brandlbergalm bis zur „Frasi“ (wie Eingeweihte die Frasdorfer Hütte liebevoll nennen), die inzwischen als „Stubn in der Frasdorfer Hütte“ firmiert und als gehobene Berg-Gastronomie glänzt. Am Herd steht ein gewisser Max Müller, der zuvor Sous-Chef im Berliner Sternerestaurant „Nobelhart & Schmutzig“ war, aber immerhin östlich des Chiemsees aufgewachsen ist. (Was man nicht als unwichtig abtun sollte. Verscherzen darf man es sich mit den einheimischen Wandersleuten und ihrer Heimatverbundenheit nämlich nicht – allein von betuchten Münchner*innen kann die feinste Alm nicht leben…)

Für die Wahlmünchnerin Carina kam das Projekt Almsommer wie gerufen. Sie ist ja ursprünglich ein Chiemgauer Kindl. Der Papa hat sie schon früh auf unzählige Gipfel geschleppt, und dank Kerstin hatte sie nun über Monate hinweg gute Gründe, die Großstadt immer wieder hinter sich zu lassen und auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln. Eine Vergangenheit, die gleich am ersten Tag, bei jenem Almauftrieb, wieder sehr lebendig werden sollte. Ihre erste Bergtour überhaupt hatte Carina just auf die Dalsenalm geführt. Nun war es die Tochter, die den Vater mitnahm. „Ein hochemotionaler Moment“, erinnert sich Carina beim Gespräch in einer Bernauer Bäckerei. Draußen kratzt die Kampenwand an einen grauen Himmel, drin verrührt Carina das Kakaopulver auf ihrem Cappuccino.

Porträt- und Reportagefotografin und „Marketing-Frau“

Die 28-Jährige hat an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München Fotodesign studiert, nach dem Studium ein halbes Jahr in Lissabon verbracht und sich 2020 als Porträt- und Reportagefotografin selbstständig gemacht. Sie fotografiert für Magazine ebenso wie für Privatleute, stellt ihre Werke regelmäßig aus und durfte bereits ein Buch „bebildern“: „Farmmade – Rezepte & Geschichten vom Leben auf dem Land“ handelt von zwei Schwestern, die ein Leben als Selbstversorgerinnen proben (das himmeblau Magazin hat darüber berichtet). Mit Kerstin ging es nun vom flachen Land ins Gebirge.

Gehen, sehen, schreiben: Die gebürtige Oberfränkin hat sich ein äußerst aktives Autorinnendasein ausgedacht. In ihrem Erstling erkundete sie „Glücksorte in Oberfranken“. In der Mache befinden sich „Meine Auszeiten – Chiemgau“ sowie „Hofläden und Manufakturen im Chiemgau“. Und weil die Heimat nicht eifersüchtig werden soll bei so viel Oberbayern, wird danach noch ein Wanderführer entstehen, bei dem die 32-Jährige mit ihrem Vater (seit kurzem Rentner) Oberfranken erkunden will. „Arbeit als Familienzeit quasi“ sagt sie und strahlt.

Nach dem Abitur in Kronach und dem Studium (Medien und Kommunikation) in Passau, zog es die junge Mutter 2019 beruflich nachTraunstein. Als Marketing-Leiterin im Tourismusverband Achental knüpfte sie erste, zarte Bande mit der Schönheit der Chiemgauer Alpen. Eine Schönheit, die sie auch als frischgebackene Freiberuflerin nicht loslässt. Die logische Konsequenz: Dieses Gehen-sehen-schreiben in hiesigen Gefilden einfach fortführen. Das muss doch hier genauso gut klappen wie daheim in Oberfranken, dachte sich Kerstin.

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Konzept für „Almfrieden“ stand schnell

Via Instagram hatten sich Carina und die Autorin schon kennengelernt, nun steckten sie auch im echten Leben die Köpfe zusammen und ergrübelten das Konzept für ein gemeinsames Buch. Almen sollten es sein. Aber unbedingt auch die Menschen! Und dazu Rezepte, weil wo schmeckts ehrlicher als direkt an der Quelle, wo die Milch fließt und die Kräuter sprießen. Wenn die zwei das jetzt erzählen, einander herzlich zugewandt und mit einem Elan, als würden sie sich schon Jahre kennen, ahnt man die Funken, die damals, beim ersten Brainstorming, wohl von Kopf zu Kopf stoben.

Das Konzept stand jedenfalls schnell, und von der Begeisterung der beiden Frauen hat sich der Verlag sofort anstecken lassen. Im Grunde konnte es keine drei Wochen später auch schon losgehen. Wie man so ein Projekt zeitlich und organisatorisch neben Job und Familie hinkriegt? „Einfach machen“, sagt Kerstin kichernd. Wie dieser quirlige Mensch auf die Idee kommt, sich als „introvertiert“ zu beschreiben, gibt Rätsel auf. Jedenfalls: Sie sei halt eine gute Mischung aus kreativem Freigeist und strukturier- ter Arbeitsbiene. So einfach ist das.

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Almfrieden: den Titel haben im Grunde die Protagonist*innen heraufbeschworen. Porträtiert wurden zwar völlig unterschiedliche Charaktere, die alle mit den unterschiedlichsten Herausforderungen kämpfen, doch am Ende des Tages (beziehungsweise des Besuchs der beiden „Forschungsreisenden“) fiel das Fazit stets ähnlich aus: Mag schon sein, dass du da oben saufrüh aufstehen musst, um das Vieh zu versorgen; dass du monatelang unter meist wenig luxuriösen, eher entbehrungsreichen Umständen haust; dass dir immer anspruchsvollere Tourist*innen den letzten Nerv rauben können („Gibt‘s hier keine Sojamilch?“); doch du bist Herr beziehungsweise Gebieterin über deine Zeit!

Nachhallende Gespräche und einprägsame Erlebnisse seien das allesamt gewesen. Kerstin erinnert sich, dass die zwei Freundinnen nicht selten gestresst zum Interviewtermin auf der Alm ankamen. Gestresst von irgendeiner Angelegenheit im Job, drunten im Tal, die Nerven angespannt vom Trubel in den Schlagzeilen und in Social Media. „Doch dann wirst du fast gezwungen, zu entschleunigen“, sagt Carina und blickt über ihren Cappuccino hinweg in die Ferne ihrer Erinnerung.

Der Plan lautete: sich komplett einlassen, nicht den natürlichen Ablauf stören, sondern im Rhythmus mitschwingen. Und so zog sich das oft über Stunden, selbst zunächst kantige Almbauern hockten am Ende entspannt da und öffneten ihr Herz. Das Buch gibt sie eindrucksvoll wieder, diese tiefen, ehrlichen Gespräche, die plötzlich um das Große und Ganze kreisen. Was zeigt: Man bekommt automatisch den Kopf frei da oben, wird geerdet. Die Dinge richten sich wieder neu aus, Prioritäten verschieben sich. Darauf konnten sich alle einigen, wenn die Frauen nach den positiven Aspekten der Schufterei fragten: Da oben fühlst du Freiheit und Frieden. Jenen titelgebenden Almfrieden, den Carina Pilz und Kerstin Elisabeth Riemer einen Almsommer lang auf den Grund gehen durften.

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Informationen über das Buch Almfrieden

Almfrieden: A G‘spür für d‘Natur, de Leid, de Viecha und mi
Kerstin Elisabeth Riemer, Carina Pilz
ISBN: 9783986600563
Kampenwand Verlag 
www.kampenwand-verlag.de