Rock ‘n‘ Restore: Ob auf der Bühne oder in Ausgrabungsstätten, mit Plektron oder Pinsel: Eine Bruckmühlerin beweist Fingerfertigkeit.
Sizilien. Größte und sonnigste Insel Italiens. Ein Sehnsuchtsort, nur einen Steinwurf entfernt vom kalabrischen Festland – dem Zeh des italienischen Stiefels. Der Duft von Macchien, Mandel-, und Zitronenbäumen vermischt sich mit der salzhaltigen Luft dreier „Ozeane“ – des Ionischen Meeres im Osten, des Tyrrhenischen Meeres im Westen und des Mittelmeeres im Süden. In der Haupstadt Palermo steigen sich (neben den rund 700.000 Einwohner:innen) pro Jahr bis zu fünf Millionen Tourist:innen auf die Sandalen. Unter der rauchenden Krone des Ätna ist die Insel das, was man als „Besuchermagnet“ bezeichnet. Zu diesen Menschenmassen gehörte im September 2023 auch Katharina Hörberg – wenn auch nicht zum Zwecke des Sightseeings.
Restauratorische Begleitung einer Ausgrabungskampagne
Neben den landschaftlichen birgt Sizilien eine Vielzahl kulturhistorischer Reize. Vielerorts wieder zu Tage gebrachte Überreste vergangener Zeiten zeugen von den unzähligen Fremdherrschaften, die der Insel ihre Stempel aufgedrückt haben – allen voran die „alten Griechen“, auch wenn das Eiland letztlich von Rom vereinnahmt wurde. Ein Paradies für Historiker und Archäologinnen! Und genau in dieser Funktion – als restauratorische Begleitung einer Ausgrabungskampagne – hockte Katharina letzten Herbst Stunde um Stunde in jenem kleinen, schief gemauerten Zimmerchen mit den weiß getünchten Wänden und dem vergitterten Fenster und ging ihrer ebenso diffizilen wie filigranen Tätigkeit nach.
Aufgabe der archäologischen Restaurierung sei es, erklärt Katharina, Fundmaterial wie Gefäße, Figuren, Werkzeuge, dekoratives Zubehör und Münzen schnellstmöglich zu versorgen. „Erste Hilfe“ nennt sie das. Dabei gehe es darum, die gefundenen Bruchstücke zu reinigen, wieder zusammenzufügen und fragile Oberflächen zu konsolidieren (also zu festigen), um das Objekt bestenfalls rekonstruieren zu können. Ziel sei, die Objekte so zu lagern beziehungsweise zu verpacken, dass sie weiteren Forschenden oder gleich Museen und anderweitigen Ausstellungen zugänglich gemacht werden können. „Wir wollen die Artefakte der Öffentlichkeit und zukünftigen Generationen so gut und so lange wie möglich erhalten“, sagt die gebürtige Münchnerin, die zwar im Landkreis Rosenheim lebt, aber an der Kunstakademie in Stuttgart die „Konservierung und Restaurierung von archäologischen, ethnologischen und kunsthandwerklichen Objekten“ – kurz: Objektrestaurierung – studiert.
Studiengang Objektrestaurierung – in der Form einzigartig
Kein sonderlich prominentes Studium. Objektrestaurierung in der Form sei einzigartig, sagt Katharina. Je nach Fachrichtung bieten es deutschlandweit nur neun Universitäten an, in ihrem Semester treffen sich vier Frauen (und null Männer). Es mangele wohl, vermutet die 28-Jährige, an Lehrkräften, Ressourcen – und leider auch an Interessent:innen. Dabei empfinde sie die Restauration als eine irre faszinierende, spannende, verantwortungsvolle, ja regelrecht ehrwürdige Angelegenheit. „Ich darf Objekte berühren und bearbeiten, die hunderte, manchmal tausende Jahre alt sind und die andere Menschen höchstens hinter einer Vitrine zu Gesicht bekommen“, schwärmt sie.
Als Advocatus Diaboli könnte man jetzt fragen: Wozu der Aufwand? Warum interessiert uns der alte Krempel? Was haben uns die Pyramiden von Gizeh, die Höhlenmalereien von Lascaux, die Mona Lisa noch zu sagen heutzutage, während einerseits die Welt vor die Hunde geht, wir andererseits vor unseren Smartphones verblöden und dabei drohen, von KIs ersetzt zu werden? Nun, gerade das macht die Arbeit mit der Vergangenheit so relevant: Sie zeichnet den Weg der menschlichen Zivilisation nach. Dass der im Moment wieder rückwärts zu führen scheint, ist eine ganz andere Geschichte.
Artefakte als Ausdruck des jeweiligen Zeitgeists
Ob vorwärts oder rückwärts: Auf unseren Wegen, so die Expertin, gab und gibt es Kulturen, die sich durch Artefakte ausdrück(t)en. „Diese Dinge erklären uns oft Sachverhalte, die wir aus mündlicher Überlieferung oder schriftlichen Quellen mit Sicherheit nie lernen würden.“ Und das, ist Katharina sicher, trifft auch für die Gegenwart zu. „Unsere Objekte sprechen für uns und unseren Zeitgeist.“ Mit anderen Worten: Die Dinge, die wir Tag für Tag benutzen, mit denen wir uns umgeben, arbeiten, unsere Welt gestalten – sie machen einen gewaltigen Teil unseres kulturellen Erbes aus, seien es Werkzeuge aus der Bronzezeit, seien es unsere Smartphones.
Dank ausgegrabener und/oder restaurierter Kulturgüter erhalten wir heute Einblicke in die technischen und künstlerischen Fähigkeiten früherer Zivilisationen. Wir erfahren etwas über die sozialen Strukturen, religiösen Überzeugungen und kulturellen Werte unserer Ahnen. Bestenfalls lernen wir daraus. Schlimmstenfalls begehen wir einen bescheuerten Fehler ein zweites Mal. (Anspielungen auf aktuelle Wahlergebnisse sind vom Autor beabsichtigt.) Jedenfalls: Damit uns solche Erkenntnisschätze zur Verfügung stehen, müssen angehende Restaurator:innen wie Katharina zunächst eine Menge lernen.
Australien, Anglistik, Objektrestaurierung
Das Studium umfasst sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaften. Es lehrt Techniken sowie Methoden der Konservierung, Restaurierung und Untersuchung. Nicht zuletzt muss sich Katharina mit unzähligen Materialien und deren spezifischen Eigenschaften (inklusive Wechselwirkungen) auseinandersetzen – von Metall über Keramik bis hin zu Glas, von neolithischem Perlenschmuck über mittelalterliche Schatzkunst bis hin zu Plastikfiguren der Neuzeit. Apropos Neuzeit: Zur Wahrheit dieser Geschichte gehört auch, dass unsere Nachfahr:innen zwar dereinst höchstwahrscheinlich ein paar Handys ausbuddeln und sich kopfschüttelnd fragen werden, wie wir uns von den Dingern derartig manipulieren lassen konnten. Andererseits wäre Katharina ohne Youtube gar nicht auf dieses Studium gestoßen.
Mit Naturwissenschaften hatte sie ursprünglich, als Abiturientin am Gymnasium in Bruckmühl, überhaupt nichts am Hut. Sie gehörte zur kreativen Fraktion, zu den Freigeistern, zu denen, die sich nach Erreichen der sogenannten allgemeinen Hochschulreife eben nicht direkt zielstrebig in ein Studium stürzen (das später einen möglichst lukrativen Job verspricht). Stattdessen: Sinnsuche in Down Under. Dort war sich diese damals wie heute zwar zartgliedrige, aber (als Geräteturnerin) kräftige junge Frau nicht zu schade, 14 Stunden am Tag auf Orangen- und Bananenplantagen zu schuften. Was sie über sich gelernt hat in Australien, zehn Monate auf sich allein gestellt? „Dass ich mich auch durch schwierige Situationen kämpfen kann und es am Ende schon irgendwie hinbekomme.“ Erst einmal kam sie zurück. Um jenen Kulturschock zu verspüren, den alle durchleben, die eine Zeit lang in einem sonnigen, weltoffenen Land verbringen und dann nach Deutschland zurückkehren, wo sowohl das Klima als auch die Gemüter eher unterkühlt erscheinen.
Am Anfang war Youtube
Bis zum Bachelor studiert Katharina Anglistik, an der Münchener LMU, will eigentlich Lektorin werden. Doch bald muss sie sich eingestehen, dass ihr die Pflichtlektüren und das analytische Entzaubern der Texte die Literatur eher verleiden. Ihr, die schon als junges Mädchen den Wecker ein paar Minuten früher klingeln ließ, um vor der Schule noch ein wenig im aktuellen Lieblingsbuch zu schmökern – ein Unding! Während sie so vor sich hin haderte, fiel sie in eines jener Rabbit Holes, die Social Media so gefährlich machen. Glücklicherweise landete Katharina weich: auf dem Youtube-Kanal der Kunstakademie Wien, die unter anderem den Fachbereich Restaurierung vorstellte. „Ich habe mir gefühlt wochenlang Restaurierungsvideos angeschaut“, erinnert sich die via Video Bekehrte. Mit welcher Bedächtigkeit und Sorgfalt da gearbeitet wurde, habe sie gleichermaßen entspannt wie fasziniert. Sie beendete eiligst die Sprachwissenschaften mit dem Bachelor, bewarb sich parallel in Stuttgart und sitzt inzwischen an ihrer Masterarbeit (die Untersuchung zweier silberner, emaillierter Prunkpokale für das Kunsthistorische Museum in Wien).
Während Katharina das erzählt, sitzen wir in einem kleinen Raum (im Keller einer Freundin, deren Haus in Heufeldmühle bei Brückmühl Katharina ein paar Tage hütet), umringt von Bildschirmen, Mischpulten und Lautsprechern. Durch ein kleines Fenster kann man in den angrenzenden Raum gucken, wo Gitarren, etliche Effekt-Pedals, Drums und Verstärker herumstehen. In diesem Tonstudio tummelt sie sich, wenn sie nicht an alten Objekten, sondern an neuen Gitarrenriffs feilt. Doll Circus heißt ihre „Girls-Band“, die sich durch knallenge Catsuits, kuriose Spitznamen (Katharella nennt sich unsere Gesprächspartnerin in diesem Kosmos) und einen ordentlich kernigen Sound auszeichnet. Rock ’n’ Roll als Kontrast zur Restaurierung?
Klebstoff, eine Wissenschaft für sich
So gegensätzlich scheinen Hobby und Studium gar nicht zu sein. Hier wie dort brauchts Fingerfertigkeit, Geduld, Ahnung von Strukturen (ob von Songs oder von Oberflächen) sowie die Beherrschung der Werkzeuge. Freilich erweist sich das eine als performative, extrovertierte Tätigkeit, das andere eher als stille, geradezu kontemplative Beschäftigung. Wie eine Mischung aus Ärztin und Detektivin komme sie sich manchmal vor, wenn sie am Mikroskop sitzt, eine spröde Stelle in einer uralten Scherbe begutachtet oder kuriosen kristallinen Ausblühungen auf den Grund zu gehen versucht, um sich letztlich – mit Unterstützung von Utensilien wie Pinseln, Pinzetten oder Injektionsnadeln – behutsam daran zu machen, das Objekt zu reinigen, zu retuschieren, zu ergänzen oder zu kleben. Immer gilt es, zunächst eine Diagnose zu erstellen, um auf dieser Basis die richtige Maßnahme zu ergründen, mittels derer sich der Schaden beheben oder das Objekt am besten erhalten lässt. Ganz wichtig dabei (neben der ruhigen Hand): auf Reversibilität zu achten! Alle Maßnahmen sollten rückgängig gemacht werden können, für den Fall, dass künftige Forschungskenntnisse zeigen, dass beispielsweise ein angewandter Klebstoff dem Objekt auf Dauer eher schade als nütze.
Klebstoff, eine Wissenschaft für sich. Katharina zeigt das Foto einer volkstümlichen Hinterglasmalerei aus dem Museum für Franken in Würzburg, schätzungsweise aus dem 19. Jahrhundert, die den heiligen Georg zeigt. Unter Mikroskop und Durchlicht offenbart sich ganz deutlich, wie Spannungen in der Malschicht zu Rissen in Form einer feinen Netzstruktur geführt haben. Ohnehin, weiß die Restauratorin, sei eine langanhaltende Farbstabilität auf der extrem glatten Glasoberfläche von vornherein unwahrscheinlich. Die restauratorische Herausforderung bestehe nun darin, ein „unsichtbares“ Klebemittel zu finden und zwischen Glas und Malschicht einzubringen, sodass Farbschollen wieder an die Oberfläche gebunden werden, ohne dabei die Bildwirkung zu verändern oder zu verfälschen.
Noch mehr filigranes Handwerk: Rosenheims Buchbindermeisterin
Fake it till you make it
Eine Fälschung im weitesten Sinne hat sich Katharina nur einmal erlaubt. Sie erzählt das nebenan, im Proberaum, wo wir uns ein paar Riffs aus dem kommenden Doll-Circus-Album vorspielen lassen, an dem die fünf „Puppen“ gerade arbeiten. Die ersten Gigs seien ebenso scary wie geil gewesen, erinnert sich Katharina, äh, Katharella. Geil, weil sie es liebt, auf der Bühne zu stehen, zu performen, die Energie aus dem Publikum aufzusaugen. Scary, weil sie ja erst vor etwa vier Jahren erstmals eine Gitarre in die Hand genommen und sich das Spielen größtenteils selbst beigebracht hat, nahezu ohne richtigen Gitarrenunterricht. Insofern, sagt sie schelmisch grinsend, habe sie sich anfangs einfach an ein im Rock ’n’ Roll gar nicht so ungewöhnliches Motto gehalten: „Fake it till you make it“. Warten wir mal ab, ob Katharina Hörberg auf Dauer Ausgrabungsstätten erobert – oder die Charts.