Über den Dächern Bad Reichenhalls lebt ein Unikum namens Od*Chi. Im Schatten des Unternbergs pflegt er sein ebenso naturnahes wie spirituelles Dasein – inspiriert von indigenen Völkern und Traditionen aus den verschiedensten Erdteilen.

Fotos: Andreas Jacob 

Als der Bub da in kurzen Hosen einen Feldweg am Rande Steinhörings im Landkreis Ebersberg entlang stapfte und keck in die Kamera grinste, hat man ihn noch ganz profan Christian gerufen. Christian Enderlein, um genau zu sein. Auf welche Gratwanderungen er sich später begeben, welche verschlungenen, manchmal auch abseitigen Pfade er als Erwachsener beschreiten würde, konnten die Eltern (Gott habe sie selig), da noch nicht ahnen. Er selbst schon gleich gar nicht, als unschuldiger Knirps. Obwohl sich erste anarchistische Anwandlungen schon bald gezeigt haben sollen, in der Schule nämlich, namentlich im Religionsunterricht. Da habe er zwar schon immer einen Einser eingeheimst, erinnert sich Enderlein, „aber ned, weil i der angenehmste oder fleißigste Schüler war, sondern der kritischste.“ Diese ganzen Leitsätze und angeblichen Tatsachen habe er einfach gerne hinterfragt. Und schon früh habe er gespürt, dass Jesus zwar ein „cooler Typ“ gewesen sein muss, die Institution Kirche aber, Gott bewahre… 

Ist immer schon gern seine eigenen Wege gegangen, der Od*Chi – hier am Rande Steinhörings.

Immerhin: Die Zweifel an „gottgegebenen“ Bibelsprüchen und die Diskussionen darüber, welcher Gott denn wohl der einzig wahre sei, dürften die Saat gelegt haben für jene ebenso tiefe wie vielschichtige Spiritualität, die Enderlein im Laufe der Jahre entwickeln sollte. Bis hin zu einer Art Taufe. Denn schon lange nennt sich der 58-Jährige nicht mehr Christian Enderlein. Das erlauben sich nur noch die Behörden. Uns begrüßt in seinem Hütterl oberhalb von Bad Reichenhall, im sogenannten Nonner Oberland: Od*Chi, seines Zeichens Alpenbarde, Esoterik-Kabarettist, Naturklang-Musiker, Brennglas-Virtuose, bajuwarischer Ureingeborener, Kräutersammler, Pfadfinder – kurzum: ein Lebenskünstler, wie er nur in ganz seltenen Büchern steht. 

Schwitzhüttenrituale und Kräutersuche

Das ebenso niedliche wie symbolträchtige Foto versteckt sich auf dem Fensterbrett seiner kleinen Stube, die als Wohnzimmer, Büro und Zeichenatelier dient und mit entsprechenden Utensilien vollgestopft ist. Stifte, Stoffe, eine Computerecke, eine Art Altar zum Gedenken an die Mama, Deko-Krimskrams in Vitrinen; dass es etwas beengt zugeht bei ihm, ist dem Od*Chi herzlich egal, er verbringt – wie es sich für einen Freigeist gehört – eh die meiste Zeit im Freien. Da sammelt er dann beispielsweise Wildkräuter wie Echte Goldrute, Johanniskraut, Meisterwurz oder Thymian für seine Tees und anderweitigen Tinkturen, die auf einem Holzregal im schmalen Flur zur Verkostung bereit stehen.

Oder er veranstaltet eins seiner in hiesigen Gefilden sagenumwobenen Schwitzhüttenrituale. Die taugen übrigens gut als Beispiel für Od*Chis Geisteshaltung. Eine Art Pantheismus pflegt er, bei dem er sich von keltisch-nordischen bis hin zu diversen indigenen Strömungen, Traditionen und Religionen inspirieren lässt, jedoch ohne diese plump zu kopieren oder gar zu persiflieren. Er hegt halt einen tiefen Respekt für alle Glaubensrichtungen rund um den Globus. Wenn droben auf einem geheimen Kraftplatz am Untersberg in der selbst gebauten Kuppel aus Weidengeflecht (gut abgedichtet mit mehreren Lagen Wolldecken) die Hitze von den glühenden Steinen emporsteigt, soll es sich einfach gut anfühlen, erden, reinigen, mit der heimischen Natur verbinden, völlig frei von Dogmen. 

Dogma, gutes Stichwort! Bei seiner Flucht vor der Engstirnigkeit mancher Teile der Gesellschaft, bei seiner Suche nach einer alternativen, weniger beengten Lebensweise, hätte er so manches mal auch falsch abbiegen können, auf die eine oder andere „schiefe Bahn“ geraten. Während wir in seinem Garten stehen, mit Blick auf den sagenhaften Untersberg und umringt von „indianisch“ bis „buddhistisch“ inspirierten Basteleien, erzählt der 58-Jährige freimütig von seinem Werdegang. Der sich zunächst bodenständig anlässt. Die Lehre zum Landschaftsgärtner lehrt Od*Chi aber nur eines: das geregelte Berufsleben ist nichts für ihn! 

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In seiner Vorstellung hätte man als Landschaftsgärtner viel Zeit in der Natur verbringen sollen, doch gefühlt tuckerte er nur tagein, tagaus in nach Diesel stinkenden Lkws von Kundschaft zu Kundschaft – und das schon von aller Herrgottsfrühe an. Kurzentschlossen sagte er diesem Leben also adieu und begann, „so quasi ein bisserl Randgruppen zu studieren.“ Heißt, er zog mit Punks durch die Lande, durfte als geduldeter Sozius mit einem Biker-Club über die Straßen des Freistaats brettern und landete schließlich in einem Bauwagen, den er für 300 Mark erstanden und am Rande Truderings platziert hatte, weit, weit am östlichen Rande von München. Von dort aus tauchte er ein in eine alternative, mitunter esoterisch angehauchte Szene. 

Ethnologische Lektüren

Um sich eine Art theoretischen Unterbau anzueignen, liest er die Bücher von Tom Brown jr., der in den USA – angeblich angeleitet von Stalking Wolf vom Stamm der Apachen – eine der ersten „Survival-Schulen“ gegründet hat. Eine weitere, prägende Lektüre: „Die Lehren des Don Juan“ des amerikanischen Ethnologen und Publizisten Carlos Castaneda. Sogar in die Welt des umstrittenen Okkultisten Aleister Crowley schnuppert Od*Chi hinein, zum Glück, ohne allzu weit abzudriften. Nebenbei widmet er sich der Musik. Wer weiß, wielleicht war es ja der hypnotische Klang des Didgeridoos, der letztlich verhinderte, dass er einfach zu einem abgehalfterten Aussteiger wurde, ein „Penner“, dessen Alltagsflucht in die Drogensucht mündet…  

Od*Chis Droge wird Mutter Natur. Er verlässt den Bauwagen, um fast zehn Jahre lang im Wald zu leben, im Regensburger Raum. Damit kein verklärtes Bild entsteht: Die Winter und richtige Scheißwetter-Perioden verbringt er in WGs, wo er für Kost und Logis im Haushalt hilft. Draußen in der Wildnis ernährt er sich auch keineswegs ausschließlich von dem, was Wald und Wiese so hergeben. Er will ja kein bayerischer Christopher McCandless werden, jener amerikanische Aussteiger, dessen Leiche man 1992 in einem abgewrackten Linienbus in der Wildnis Alaskas fand und der dank seines (auch verfilmten) Tagebuchs zu einem tragischen Helden der Zivilisationsflucht wurde.

Ein Virtuose am „Didge“

Od*Chi pendelt zwischen den Welten. Die zum Lebensunterhalt benötigte Kohle verdient er sich in der Fußgängerzone, als Straßenmusiker. Auf sein Seeleninstrument stößt er durch Zufall. Als er eine Weile bei einem Biobauern jobbt, packt ein anderer Hilfsarbeiter eines Tages in der Zigarettenpause ein Didgeridoo aus, jenes mystische Musikinstrument der indigenen Völker Australiens. Der Klang des „Urhorns“ ist für Od*Chi wie eine Offenbarung. Er bringt sich autodidaktisch das Spielen bei und später sogar den Bau. Anders als die „Aborigines“ fertigt er seine „Didges“ nicht aus von Termiten ausgehöhlten Eukalyptusstämmen, sondern aus heimischen Hölzern.

Dabei entwickelt er schnell so eine Kunstfertigkeit, dass er die Dinger verkaufen kann. Sein eigenes Instrument, aufwendig verziert mit Runen und einem Drachen, entstammt einem Ahornast. Um die sogenannte Zirkularatmung  noch besser zu beherrschen, schwört Od*Chi dem Tabak ab. Er will genug Puste für seine Weltmusik in Lunge und Backe haben. Wie gut ihm das inzwischen gelingt, beweist er regelmäßig auf Veranstaltungen wie der „Uralpinen Klangreise“ im Berchtesgadener Heilstollen (das nächste Mal am Sonntag, 27. Oktober 2024, jeweils von 14 bis 17 Uhr). 

Auf den Spuren der alten Germanen

Vor rund dreißig Jahren entdeckte der ehemalige Ebersberger dann den Reiz des Berchtesgadener Lands. Natürlich mietet er nicht einfach eine Wohnung, wie jeder dahergelaufene Durchschnittsbürger. Sagen wir mal so: mit seinem spitzbübischem Charme und der ja durchaus ernst gemeinten Verbundeheit zur Natur erwirkt er sich immer wieder eine Art inoffizelles „Duldungsrecht“, mal hier, mal da, sei es auf privatem, sei es auf öffentlichem Grund. Er hält „Things“ ab (gesprochen Ting), von den alten Germanen inspirierte Versammlungen, bei denen es zwar lustig hergeht, wo die teilnehmenden Herscharen aber auch Müll einsammeln.

Sogar ein echter Verein geht aus den Aktionen hervor, der „Naturzauber e. V.“, dessen Zweck es ist, „das Bewusstsein für die Natur und für Mutter Erde zu fördern und sich dabei auch an den Lebensweisen, der Weltsicht und den Weisheiten der Naturvölker zu orientieren.“ Wer in diesem Rahmen auch Kinderfreizeiten durchführt, sollte vielleicht doch einen amtlichen Wohnsitz vorweisen können, den hat die Gemeinde dem Od*Chi deshalb, sagen wir mal, verschafft, unten in Leopoldstal. 16 Jahre habe er dort gehaust, bis er 2020 diesen herrlichen Flecken angeboten bekam – und die Hütte zu seiner „Base“ umgemodelt hat. Kunstvoll verziert mit Landart, Holzmasken, Traumfängern, einer Piratenflagge. Sesshaft muss ja nicht gleich langweilig bedeuten!

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Die Ski- und Wandertouren auf den Untersberg, die Kneifelspitze oder den Hirschangerkopf beflügeln jetzt Od*Chi Seele – und er beflügelt die Seelen der Bevölkerung, indem er das erwähnte Schwitzhüttenritual durchführt, Kräuterwanderungen anleitet oder Konzerte gibt – wobei er spirituelle Lieder und Mantren aus aller Welt in Ober- und Untertongesang darbietet sowie neben dem Didgeridoo auf diversen weiteren archaischen Instrumenten wie Handpan oder Maultrommel spielt. Als DJ sorgt er für tranceartigen Sound. Und nicht zuletzt hat er hier heroben das Kunsthandwerk für sich entdeckt.  

Kissen, Tücher, Tassen, Mouse-Pads: Zeichnete Od*Chi seine Mandalas zunächst als Entspannungsübung, aus Spaß an der Freud, zeigte sich schnell, dass es eine gewisse Nachfrage gibt. Wenn man ihm auf Festivals das Zeug eh immer wieder abschwatzt, kann er es auch gleich semi-professionell fabrizieren, hat er sich gedacht. Od*Chis Meisterstücke aber bestehen aus Holz. Er stellt ein paar Saunakübel auf die Werkbank, draußen vor der Hütte, ein paar Schachteln und Kistchen und schüttet einen ganzen Haufen Amulette aus ihrem Sackerl. Ja, schon hübsch, lautet der erste Gedanke, aber sooo besonders auch wieder nicht – bis Od*Chi demonstriert, wie er die Muster und Formen ins Holz eingebrannt hat. Nur mittels Brenngläsern und der Kraft der Sonne nämlich. Ein beeindruckendes Schauspiel, das eine ruhige Hand und viel, viel Geduld erfordert. Aber er hat ja Zeit, der Od*Chi, Bad Reichenhalls freiester Freigeist.


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