Niemand hat geholfen: Ursula Kirchenmayer aus Berlin veröffentlicht ihren Debütroman über ein verstörendes, doch wahres Erlebnis. Ein Besuch im neuen Zuhause am Ammersee.
Fotos: Susanne Böllert
Ein Paar Gummistiefel steht auf dem Absatz vor der Haustür, auf der Holzbank unterm Fenster warten ein paar Zweige darauf, dass sie jemand hineinnimmt und vor dem Kamin stapelt. Im Haus geht die offene Küche mit der massiven Kochinsel über ins helle Wohnzimmer, das mit seinem Dielenboden, den deckenhohen Bücherregalen, dem großen Esstisch aus Holz und den zur Seite geräumten Spielzeugen Geborgenheit und Gemütlichkeit ausstrahlt. „Hier igle ich mich mit meinem Kaffee und meinem Laptop ein, solange die Kleinen im Kindergarten sind“, sagt Ursula Kirchenmayer.
Seit drei Jahren lebt die 38-Jährige mit ihrem Freund Alex und ihren Kindern Noah (5) und Milena (3) in Herrsching, in einer kleinen Siedlung mit 70er-Jahre-Einfamilienhäuschen, mit Spielplatz und ohne Autoverkehr, nur ein paar Fußminuten vom See entfernt. Vor ihr auf dem Tisch, den Alex gezimmert hat, liegt ein gebundenes Buch mit grünem Leseband. Ursulas erster Roman:„Der Boden unter unseren Füßen“.
Vier Jahre lang hat die Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig an den 400 Seiten geschrieben, die ihre Geschichte erzählen. Eine verstörende und doch wahre Geschichte, die Ursula und Alex in Berlin durchlebt haben und die so gar nicht zu dem kleinen Idyll passen will, das sich die Familie am Ammersee aufgebaut hat.
Schizophrene Frau wird zur Bedrohung
Ein Paar, das noch nicht lange eins ist, erwartet Nachwuchs. Das hippe Leben ungebundener und notorisch klammer Kreativer zwischen Dating Apps und Lesungen, WG-Zimmern und Kneipenbesuchen wird bald enden. Die dramatische Wohnungsnot in der Großstadt pervertiert die drängende Suche nach einer familiengerechten Bleibe in ein erniedrigendes Gerangel mit ähnlich verzweifelten Mitbewerber*innen. Schießlich rettet ein Wohnungstausch Laura und Nils.
„Altbau in einer wenig befahrenen Seitenstraße, 92 Quadratmeter, 3 Zimmer, Hinterhaus. In der Nähe ein kleiner Park.“ Doch entpuppt sich die vermeintliche Erlösung noch vor der Geburt des Sohnes als Falle. Denn direkt unter ihnen wohnt Peggy. Eine hochgradig schizophrene Frau, die auf die Wohnung im ersten Stock fixiert zu sein scheint, und schlimmer noch: auf das neugeborene Kind. Sind es anfangs noch obszöne Beleidigungen und hasserfüllte Blicke durchs Fenster, mit denen die Nachbarin in die Wohnung der jungen Familie eindringt, gipfelt die Bedrohung rasch in eine reelle Gefahr.
Peggy, die immer wieder mit einem Messer durch das Haus und durch die Nachbarschaft irrt, tritt während einer Hochphase der Schizophrenie dieWohnungstür ein. Was hat sie vor? Will sie das Kind holen, weil sie ihr eigenes verloren hat?
Behörden halfen Ursula Kirchenmayer nicht
Nie ist eine Frau verletzlicher als nach der Geburt des ersten Kindes. Nie mehr auf sich selbst zurückgeworfen und sich gleichzeitig auch nie fremder. Kirchenmayer beschreibt das so: „Lauras T-Shirt war nass. Aus der Brust tropfte Milch. Sie konnte sich immer noch nicht an das Gefühl gewöhnen. Als ob sie seit der Geburt ein bisschen Tier geworden wäre.“ In diesen Moment der Schwäche und des Kontrollverlustes bricht im Roman – wie zuvor im Leben Kirchenmayers – eine unberechenbare Gefahr von außen ins Innere ein und zerstört die letzte Sicherheit, die der eigenen vier Wände.
Ursula, die an jener Kücheninsel, die Leser*innen auch aus dem Buch kennen, heißen Tee aufgießt, sagt: „Ich konnte keinen Ruck-sack packen und einfach weiterziehen, wie ich es früher hätte machen können. Mit Baby war alles so viel langsamer, mühsamer.“ So unaushaltbar, so existentiell bedrohlich die Situation in der Wohnung auch ist, eine Alternative gab es nicht. Denn weder die Wohnungsverwaltung noch der sozialpsychiatrische Dienst noch der Betreuer der kranken Nachbarin konnten oder wollten helfen, weder dem Paar noch Peggy. Ausziehen, rät der Polizist, als er die Zerstörung der Wohnungstür dokumentiert. Doch wohin in einer Stadt, in der erschwinglicher Wohnraum praktisch nicht mehr existiert?
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„Ja“, sagt die Autorin, die schon als Jugendliche geschrieben hat, um sich selbst auf den Grund zu gehen, „der Roman ist natürlich auch eine Traumaverarbeitung. Aber nicht nur. Denn nicht alles, was im Buch passiert, ist real; und nicht alles, was passiert ist, hat ins Buch gefunden.“ Doch eben durch die Verfremdung und die literarische Gestaltung des Widerfahrenen hat Kirchenmayer die Hoheit über ihre Geschichte zurückerlangt. Statt einer feindlichen Fremden ausgeliefert zu bleiben, hat die Autorin sie in eine Romanfigur transformiert, das Erlebte in Fiktion gewandelt.
Die strikt beibehaltene Perspektive des Paares ist jedoch nicht nur Stilmittel, sondern auch aus Respekt gegenüber der seelisch Schwerkranken gewählt, wie Ursula erklärt: „Ich wollte mir nicht die Geschichte der Nachbarin, über die wir im Grunde nie etwas erfahren haben, aneignen. Nicht, nachdem wir dafürgesorgt hatten, dass sie ihre Wohnung verlässt.“ Nach vielen Monaten der Angst und Hilflosigkeit hatten sie schließlich per Gerichtsbeschluss erwirkt, dass die Nachbarin ausziehen musste.
Nächstes Buch bereits in der Mache
Der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit widmet sich Ursula in ihrem zweiten Buch, an dem sie derzeit am Eichentischim Wohnzimmer arbeitet, noch eingehender. Als Banatschwäbin in Lugoj, Rumänien, geboren, kam sie mit einem Jahr nach Nürnberg und erlebte den wirtschaftlichen Aufstieg ihrer fleißigen und ernsthaften Einwandereltern mit – und das Für- immer-anders-Sein der Entwurzelten.
Eigene Wurzeln geschlagen hat die Ex-Hauptstädterin nun im oberbayerischen Herrsching. Der Boden unter Ursulas Füßen ist seit letztem Sommer ein schmaler Ackerstreifen, den sie und Alex auf einer Anhöhe am Rande Herrschings gepachtet haben, um dort mit Milena und Noah Salat und Kartoffeln zu pflanzen. Was aus „Peggy“ geworden ist, hat das Paar nie erfahren.
Infos zum Buch
Erschienen im dtv Verlag
EUR 23,00 [DE] – EUR 23,70 [AT]
ISBN: 978-3-423-28313-7
Erscheinungsdatum: 12.01.2023
1. Auflage
400 Seiten
Format: 12,5 x 19,6 cm
Sprache: Deutsch