Rosen, Tulpen, Nelken, Narzissen, Lilien, Mohn – es gibt kaum eine Blume, die Julia Schreiber nicht zum Blühen bringen könnte. Der Clou: ihre Sträuße aus Papierblumen sind für die Ewigkeit gemacht.

„Waterstones Picadilly“ (benannt nach dem berühmten Picadilly Circus, an dem das Gebäude thront) gilt mit seinen sechs weitflächigen Stockwerken, durch die sich über acht Meilen prall gefüllte Bücherregale schlängeln, als größte Buchhandlung Londons – wenn nicht gar Europas. Hier, in diesem Paradies aus Stein und Papier, sollte Julia Schreiber eine Art Erweckung erleben. Geboren in Freilassing und aufgewachsen in Bad Reichenhall, hatte es die junge Frau nach dem Abitur zunächst eilig, möglichst weit weg zu kommen. „Eine Kurstadt mit Durchschnittsalter 68, da wollte ich schnellstens raus!“

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Eine Odysee um die Welt

Es folgte eine wilde Odyssee, die ihrem mythologischen Vorbild in Sachen Irrungen und Wirrungen nur wenig nachstand. Chronologisch ist das kaum nachzuerzählen, selbst Julia verheddert sich in den zahlreichen Ranken ihrer Erinnerungen. Als Quintessenz lässt sich zusammenfassen: Der Weg streifte Mannheim, Basel und Hamburg und mündete schließlich in den Kanal – den Ärmelkanal, um genau zu sein, der sie nach London brachte. Statt eines Studiums der freien Künste oder der Szenografie (wie zwischenzeitlich angedacht), war es zunächst das etwas bodenständigere Kommunikationsdesign geworden.

„Paper Engineering“ in London erlernt

Im Rahmen eines Austauschprogramms mit der University of East London erlernte Julia auf der Insel für ihren Master dann die Kunst des „Paper Engineerings“ – eine Tätigkeit, die mit dem Begriff des Bastelns mehr schlecht als recht übersetzt wäre. Wer bastelt, schneidet entzückende Fensterbilder aus einem Blatt Papier oder faltet putzige Figürchen. Doch aus diesem so dünnen und verletzlichen Material lassen sich, wie Julia fasziniert feststellen durfte, auf wundersame Weise (und mithilfe einer durchaus anspruchsvollen Kombination aus Fingerfertigkeit und Mathematik) ganze Welten bauen.

Bei Pop-Up-Büchern war es um Julia geschehen

Zur Veranschaulichung klappte der englische Dozent ein paar Pop-up-Bücher auf – und um die deutsche Studentin war es geschehen. Als sie (sozusagen Feldforschung betreibend) durch die entsprechende Abteilung im Waterstones schlendert, fällt der Groschen. Julias Abschlussarbeit wird Lewis Carrolls „Alice through the Looking-Glass“ (Dt.: Alice hinter den Spiegeln) – illustriert, grafi sch aufberei-tet und als Pop-up-Buch auf die Welt gebracht. Das Haptische, sagt sie, sei ihr schon immer wichtig gewesen. Wenn die Komilliton*innen am iPad illustrierten, habe sie ein Daumenkino gestaltet. Darum wird sie, zurück in Hamburg und bei einer klassischen Werbeagentur arbeitend, auch nicht so richtig glücklich. Sie schnappt sich ihre Aufklapp-Alice, tingelt zur Kinderbuchmesse nach Bologna und trifft wie von Göttern geleitet auf einen Londoner Verlag, der tatsächlich ihr Buch publizieren will.

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Damit steht der Entschluss: Julia wird Papierkünstlerin. Vier Jahre verbringt sie im Vereinigten Königreich, lernt das Handwerk von Keith Finch (ei-ner Koryphäe seines Fachs) und damit von der Pieke auf. Julia ist so geschickt und gleichzeitig so begeistert von dieser Kombination aus Kreativität und Konstruktionskunst, dass sie sich zurück in Deutschland selbständig macht.

Von München aus arbeitet sie als freie Papier-Ingenieurin, als eine von vielleicht zwei Händen voll im ganzen Land. An weit über 50 Pop-up-Büchern für Verlage zwischen München und Sydney ist sie im Laufe der Zeit beteiligt, Zeitschriften buchen sie für kunstvoll bebilderte Features, Werbeagenturen für überraschende Postsendungen und ähnliche Projekte.

Vorbild für die Papierblumen von Julia Schreiber: Die Botanik

Heute arbeitet die zweifache Mutter von ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock des Wohnhauses aus, nur einen Steinwurf entfernt vom Nordufer des Simssees im Landkreis Rosenheim. In einer Ecke bedeckt ein „Urwald“ aus farbenprächtigen Papierblumen den Boden. Gegenüber, unter den über Eck verlaufenden Fenstern, steht der Schreibtisch, an dem die täuschend echt wirkenden Kunst-werke entstehen. Zwanzig Scheren und rasiermesserscharfe Skalpelle für jede erdenkliche Art Papier und jede noch so filigrane Form liegen bereit. (Das Schmuckstück stammt ursprünglich aus der Biologie und wird von Julia zweckentfremdet. Sie seziert keine Fliegen, sondern Blüten.) Außerdem benötigt sie Bastellack, Pastellfarben aus der Malerei, Draht, Modelliermasse – und vor allem italienisches Krepp-Papier (das sich als besonders beständig erwiesen hat). Vorbild ist die Natur, der sich Julia Schreiber für ihre Papierblumen im ersten Schritt nähert wie eine Botanikerin.

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Bevor sie eine Blume so originalgetreu nachbauen kann, dass Käufer*innen oft reflexartig daran schnuppern, macht sie sich eine Art Bauplan. Dazu zerlegt sie die Blüten feinsäuberlich in ihre Einzelteile und klebt diese mitsamt Konstruktionsanleitung auf DIN A4 Blätter, die zu Dutzenden in einem Hängeregister lagern. Umgekehrt – also von Blatt zu Blüte – kann das Prozedere von einer bis zu mehreren Stunden dauern, je nachdem wie virtuos sich Mutter Natur eine bestimmte Blüte ausgedacht hat.

Pfingstrosen oder Mohnblüten

Die Kundschaft für die Papierblumen von Julia Schreiber mags meist opulent: Pfingstrosen oder Mohnblüten würden gern genommen, sagt Julia, wegen ihrer üppigen, ausladenden Köpfe. Die Künstlerin selbst liebt eher Wildblüten, „weil sie klein und unscheinbar wirken, aber dennoch bezaubern“. Ein paar liebevoll befüllte Schaukästen sowie das eine oder andere gerahmte Bild unten im Wohnzimmer beweisen Julias Leidenschaft fürs auf den ersten Blick Kleine und Schlichte. Sie schaut eben gerne genauer hin. Auf diese Weise hat sie sich auch mit Tulpen oder Narzissen angefreundet, die sie früher als vermeintliche „Spießerblumen“ mit Verachtung strafte, die sie aber zu schätzen lernte, nachdem sie die Blüten genauer unter die Lupe genommen hatte. Und die geliebten Pop-up-Bücher? „Den Verlagen fehlt das Geld, das wird immer weniger bestellt“, sagt Julia.

Bühnenbilder in 3-D

Umso erfreulicher, wenn doch ab und an ein Projekt an die Türe klopft. Rein handwerklich ist die Herausforderung einfach viel größer als bei Blumen. Denn am Ende muss es der Papier-Ingenieurin gelingen, Hebel, Räder, Rampen und ähnliche Konstruktionen so zu falten oder klebend zu verbinden, dass sich beim Aufklappen des Buches plötzlich Tiere, Gebäude oder Fahrzeuge aus den Seiten emporheben. Kürzlich ist die Gilde der San Francisco Opera an Julia herangetreten. Um deren Lehrprogramm zu bewerben, soll es als Pop-up produziert und verteilt werden. Die Anfrage hat die Söchtenauerin sehr glücklich gemacht. Sie darf Bühnenbilder in 3-D gestalten, bewegt sich also im Grunde „back to the roots“, zurück in eine Zeit, als sie noch nicht wusste, wohin die Reise gehen würde. Heute weiß Julia: Papier ist geduldig. Und sie ist es auch.