Niemand muss Gewalt ertragen. Und dennoch gibt es Menschen, die sie – ob psychisch oder physisch – hinnehmen, weil sie sich nicht zu helfen wissen. Der Weiße Ring lotst aus der Misere.

Zuerst, liebe Leserinnen und Leser, möchten wir Sie darauf hinweisen, dass es in diesem Artikel um Gewalt gehen wird. Partnerschaftliche, häusliche, sexuelle, innerfamiliäre Gewalt. Wenn Sie damit Erfahrungen gemacht haben, empfehlen wir, den Artikel mit jemandem gemeinsam zu lesen. Aber lesen Sie ihn, vor allem, falls sie mittendrin stecken. 

Als Angelika R. ihren Partner kennenlernte, war er liebevoll und aufmerksam. Eine ganz normale Beziehung, nichts deutete auf das hin, was kommen sollte. „Irgendwann schlug es halt um“, sagt sie heute. Es habe mit Kleinigkeiten angefangen: erst habe er sich ihr gegenüber aggressiv geäußert, sie beschimpft. Dann seien relativ schnell danach die ersten körperlichen Angriffe gefolgt. Schließlich habe er Angelika geschlagen. Sie habe es so hingenommen, sich eine Schuld am Verhalten ihres Partners gegeben. So wie viele Opfer partnerschaftlicher Gewalt. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht oder womit sie es provoziert haben.

Sprechen die Partner nach einer solchen Eskalation miteinander, kommt es oft zu Beteuerungen des Aggressors, so etwas würde nie wieder passieren – und Opfer glauben das gerne. Schließlich liebt man sich ja und erinnert sich an die schönen, an die guten Zeiten. Häufig mündet das in einen scheinbar nicht enden wollenden Teufelskreis, einer Gewaltspirale. Angelika R. aber habe eines Tages gemerkt, dass ihr Partner eine Grenze überschritt, die sie um ihr Leben habe fürchten lassen. Und sie schaffte es: Sie verließ den Mann, suchte Schutz, Unterkunft und Trost ihrer Mutter. Doch auch dort hatte sie keine Ruhe vor ihm. Mit einer schlichten Trennung schien es nicht getan. Also ging sie zur Polizei und suchte dort Hilfe. Die Beamt:innen verwiesen sie an den Weißen Ring

Gewalt hat viele Gesichter

Der Weiße Ring hilft Opfern von Gewalt, nicht nur in Partnerschaften. Auch Angehörige von Gewaltopfern können hier Hilfe bekommen, Opfer von Einbrüchen, Überfällen und vielem mehr. Gegründet wurde der Verein 1976 von Eduard Zimmermann, Fernsehjournalist und Moderator von „Aktenzeichen XY … ungelöst“ gemeinsam mit anderen Menschen aus Politik, Medien, Wirtschaft und Justiz. Heute hat der Weiße Ring rund 400 Außenstellen mit 3.000 ehrenamtlich Mitarbeitenden sowie rund 400.000 Mitglieder. Der Verein finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden, Nachlässe und Zuweisungen aus Geldbußen.

Günter Schwarz leitet die Außenstelle Rosenheim des Weißen Rings und ist gleichzeitig Landes-Präventionsbeauftragter Bayern Süd. Mit ihm arbeiten weitere fünf Ehrenamtliche für Rosenheim. Nach Adam Riese sind das dann sechs Helfer:innen für den kompletten Landkreis und die kreisfreie Stadt Rosenheim. Nur zwei davon  sind Männer. Dabei wären auch männliche Mitarbeiter sehr wichtig. Nicht nur, wenn es um Körperverletzungsdelikte geht oder um Fälle häuslicher Gewalt, wo noch unklar ist, ob die Gewalt ausübende Person noch vor Ort ist oder um die Ecke lauert. Wichtig sind sie auch, wenn das Opfer männlich ist. Denn auch Männer werden Opfer von häuslicher Gewalt. Doch dazu später mehr.

Brigitte Moosmüller und Günter Schwarz, Helfende beim Weißen Ring, Außenstelle Rosenheim
Fotos: Andreas Jacob

Schwarz war 25 Jahre Polizeibeamter. Er engagiert sich seit neun Jahren beim Weißen Ring, seit vier Jahren leitet er die Außenstelle. Der vorherige Leiter hatte diese Position mehr als 35 Jahre inne – aber er war den Großteil der Zeit alleine. Irgendwann konnte er zwei ehrenamtliche Helfer begrüßen. Beide männlich. Besser als keine Hilfe, klar. Aber doch ungut, wenn es um weibliche Opfer von Gewalt geht, die durch Männer ausgeübt wurde wie sexualisierte Gewalt oder wenn der (männliche) Partner in der Beziehung der aggressive Part war. 

Warum er sich beim Weißen Ring engagiere, fragen wir Schwarz. Hat man nach so langer Zeit als Polizeibeamter nicht langsam die Nase voll von dem, was Menschen einander antun können? „Bei der Polizei hatten wir den Spruch: ‚Wenn alle den Täter jagen, wer ist dann noch beim Opfer?‘ und genau das ist das Problem.“ Für Schwarz ist klar, dass den Opfern geholfen werden muss. Für die Verfolgung der Tat und des Täters gibt es die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die Möglichkeiten, die das Opfer hat, muss es selbst einleiten. Zum Beispiel im Rahmen des zum Januar 2024 neu in Kraft getretenen Sozialen Entschädigungsgesetzes, das das bis dahin gültige Opferentschädigungsgesetz abgelöst hat.

Weißer Ring steht für das Opfer ein

Es gibt viele Möglichkeiten, zu helfen, vor allem in einem Verein wie dem Weißen Ring. Wie diese Hilfe aussieht? Schwarz erklärt, das Alleinstellungsmerkmal des Weißen Rings sei es, dass unbürokratisch finanzielle Soforthilfe in einem gewissen Rahmen geleistet werden könne. In einem solchen Fall wird nicht die wirtschaftliche, sondern die persönliche Bedürftigkeit geprüft, heißt: Keine Offenlegung von Vermögensverhältnissen, sondern sofortige Hilfe. Außerdem (natürlich je nach Fall, Tatbestand oder Wunsch) können Opfer aus der „Gefahrenzone“ gebracht werden, die Helfer:innen gehen mit den Opfern zu Polizei, Ärzt:innen oder sonstigen Stationen und begleiten auch darüber hinaus zu Gerichtsverhandlungen und ähnliches. Und vor allem ist die erste Regel des Weißen Rings: Dem Opfer wird zugehört und geglaubt.

Natürlich gebe es auch Menschen, die  Übergriffe erfänden, aber davon gehe man erst einmal nicht aus. Wenn sich ein Opfer in Lügen verstricke, dann merke man das. Schwarz betont auch, dass es nicht auf Einzelheiten ankomme. „Das Einzige, was wir wissen müssen: Was ist passiert, welcher Tatbestand liegt vor?“ Dazu gehöre auch, beispielsweise bei sexueller Gewalt zu unterscheiden zwischen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung. Denn je nach Tat wird anders vorgegangen. Aber: Die Details der Tat sind für den Weißen Ring nicht wichtig. 

„Der Täter wird verurteilt,
ein Opfer bekommt lebenslänglich.“
– Günter Schwarz

Die Geschichte von Angelika R., die wir zum Einstieg erzählt haben, ist eine wahre Geschichte, die der Weiße Ring für Journalist:innen zur Verfügung gestellt hat.  Aber auch bei der Außenstelle Rosenheim gibt es Helfer:innen, die selbst einen Hintergrund mit Gewalterfahrungen haben. Schwarz kennt die Fälle, weiß aber auch, dass seine Ehrenamtlichen das verkraftet haben und stabil dastehen, empathisch sind gegenüber Opfern und helfen wollen statt zu bemitleiden. 

So wie Brigitte Moosmüller. Sie engagiert sich erst seit kurzem beim Weißen Ring, aber fühlt sich dabei „genau am richtigen Platz“. Aufmerksam geworden ist sie 2023 während einer Reha-Maßnahme, die sie aufgrund eines schweren Unfalls auf sich nehmen musste. Es lag ein Flyer aus und das Konzept „Weißer Ring“ hat sie auch aufgrund ihrer eigenen Vergangenheit sofort angesprochen.

Sie selbst hat häusliche Gewalt erlebt und ist lange nicht aus dieser Situation gegangen. Man wolle die Familie erhalten, konservieren, was man sich über Jahre aufgebaut habe. „Vor allem meinen Kindern habe ich damit großes Leid zugefügt“, sagt sie heute. Sie kenne das Gefühl, vor einem riesigen Berg zu stehen, der Ohnmacht verursache, und Unfähigkeit, den ersten Schritt zu machen. Man wisse überhaupt nicht, wo oder wie man anfangen solle. „Es gibt so viele Menschen, denen es ähnlich geht. Denen möchte ich helfen.“ Sie selbst habe sich und ihre Kinder irgendwie aus der Situation befreit und wenn sie immer wieder betont, dass niemand es verdient habe, so behandelt zu werden, dann versteht man, wie ernst sie die Sache nimmt.

Auch Promis wie Moderatorin Marlene Lufen engagieren sich für den Weißen Ring.
Fotos: Viktor Strasse/Photography

Den Weißen Ring anzurufen sei der erste, riesige Schritt in eine gewaltfreie Zukunft.  Die Polizei zu holen sei eine andere Sache. „Da wird man gefragt, ob man ihn anzeigen will, aber das weiß man in dem Moment nicht. Man will sein Leben ja nicht zerstören“, sagt sie. Das passiert beim Weißen Ring nicht. Hier wird überlegt: Was genau braucht das Opfer jetzt? So etwas habe sie damals gesucht. „Ich weiß, wie es ist, nachts auf einer Parkbank zu sitzen und nicht zu wissen, wen man anrufen soll oder wie es weitergeht.“

Vermutlich ist sie eine derjenigen, die trotz der Vergangenheit stabil da steht und das gut verkraftet hat, wie Schwarz schon bemerkte. Aber was passiert, wenn ein Fall einem mal so richtig an die Nieren geht? Dann setzen sich die Kolleg:innen zusammen und sprechen miteinander. Aber nichts von einem Fall dringt nach außen. Alles bleibt im Weißen Ring. Für ganz extreme Fälle gibt es auch die Möglichkeit einer Supervision, also einer psychologischen Betreuung. Man möchte auch die Helfer:innen nicht „verheizen.“

Eine kleine Statistik

Stand Juli 2024 gab es im Zuständigkeitsbereich der Außenstelle Rosenheim 36 Fälle, in denen die Helfenden des Weißen Rings tätig wurden. Einsam an der Spitze mit rund 28 % liegt sexualisierte Gewalt (sexueller Missbrauch, Belästigung und Vergewaltigung), Taten mit Kindern als Opfer sind hier ausgenommen. Gleichauf mit 17 % liegen dahinter Körperverletzung und häusliche Gewalt. Man kann davon ausgehen, dass die Zahlen vor allem häuslicher Gewalt noch merklich steigen werden. Wohlgemerkt: Wir sprechen hier nur von den Fällen, die beim Weißen Ring  ankommen. Schwarz: „In der ‚staaden Zeit‘ passiert bei uns regelmäßig ein bisschen mehr.“ Das liege zum einen daran, dass – wie auch während der Corona-Lockdowns – die Partner:innen mehr Zeit miteinander in der Wohnung verbrächten, zum Anderen aber auch – und das ist eine positive Entwicklung – daran, dass die Menschen mehr Zeit haben, nachzudenken und ihnen klar wird, dass etwas in ihrem Leben nicht stimmt.

Kinder besonders schützen

Besonders bewegend seien für Schwarz diejenigen Fälle, in denen Kinder beteiligt sind, sagt er. Nicht umsonst versucht er gerade, ein weiteres Präventions-Theaterstück in den Landkreis zu bringen. Es gab bereits das „Pfoten weg“-Theater und ein Stück, das auf die Gefahren von Cybermobbing aufmerksam gemacht hat. Dabei sei es einfach wichtig, dass Kinder keine Angst haben, mit Fragen zum Internet auch auf die Eltern zuzugehen. „Am besten setzt man sich gemeinsam hin und schaut sich an, welche App der Nachwuchs installiert haben möchte.“ Bei sich und den Kindern Berührungsängste abbauen und einen verantwortungsvollen und vertrauensbasierten Umgang mit dem Handy und dem Laptop pflegen, das sei ganz wichtig. 

Auch ganz wichtig wiederum für die Arbeit des Weißen Rings: das persönliche Engagement der Mitarbeitenden. Denn es müsse allen klar sein, dass sie nichts dafür erhalten. Meist nichtmal ein Update, wie es nach dem Gespräch weiterging. Wer den Weißen Ring anruft, denen werde geholfen. Und alle seien auch extrem dankbar, das sehe, spüre und wisse man, sagen Schwarz und Moosmüller übereinstimmend. Dennoch: Über 80 % der weiblichen Opfer von häuslicher Gewalt gehen nach einem Gespräch mit dem Weißen Ring wieder zurück in die Beziehung. „Das muss man eben akzeptieren“, sagt Schwarz. Auch wenn es schwierig sei.

Das lernt man nicht in den Schulungen, die man durchläuft, bevor man zur helfenden Hand, zum „Lotsen“, wird, aber man bekommt anderes, wichtiges Handwerkszeug mit. Bis man selbst eine Fallbearbeitung macht, werden Hospitationen bei erfahrenen Kolleg:innen durchlaufen sowie ein Grundlagenseminar, das sich zu großen Teilen auch der Bürokratie widmet. „Wir haben leider viel Papierkram, aber was sein muss, muss ein.“ sagt Moosmüller. Selbstverständlich bekommen die Ehrenamts-Aspirant:innen auch die ein oder andere Empfehlung an die Hand, wie man mit Opfern spricht, wie man ihnen begegnet und vor allem: Wie man effektiv helfen kann, vieles aber ergibt sich erst im Tun und mit der Erfahrung. 

Gewalt gegen Männer

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Kürzlich erst startete der Weiße Ring eine Social Media-Kampagne mit dem Schwerpunkt häuslicher Gewalt gegen Männer (siehe Video oben). Leider immer noch ein Thema, das wenig Beachtung findet. Auch Männer werden Opfer und sind nicht immer nur Täter. Doch im kollektiven Blick der immer noch patriarchisch geprägten Gesellschaft passt das Opfer-sein einfach nicht ins klassisch-starke Bild eines „richtigen Mannes“. Aber jeder kann zum Opfer werden, wichtig ist, dass niemand eins bleibt und, wenn man sich aus der Situation gelöst und befreit hat, auch ein Abschluss gefunden wird. Ob mit Anzeige oder ohne, mit Gerichtsverfahren oder nicht. 

Gerade wer sich aus einer gewaltvollen Beziehung löst, stellt womöglich fest, dass der verlassene Partner sich noch lange nicht gelöst hat. Oft folgen Stalking, Bedrohung oder Nötigung. Selber gesicherte Beweise sind meist nicht gerichtsfest. Da hilft die No-Stalk-App: Die eigens vom Weißen Ring beauftragte App hilft dabei, Beweise zu sichern per Notizen, Videos, Fotos und Tonaufnahmen. Einmal eingegeben, sind die Daten nicht mehr veränderbar und sicher auf einem externen Server gespeichert. Im Falle einer Gerichtsverhandlung können diese aber heruntergeladen werden und gelten als Beweismittel.

Lesenswert: Stalking – aus echtem Erlebnis Roman gemacht

Dass es den Weißen Ring gibt, hat sich noch nicht so herumgesprochen, wie manch eine:r denken möge. Wenn wir während der Recherche jemandem erzählt haben, woran wir gerade arbeiten, kannten nur ca. 30 % den Weißen Ring. Das sollte geändert werden! Wer weiß, wann man die Hilfe von Günter Schwarz und seinen Leuten mal brauchen kann. Hoffentlich nie.

Weißer Ring, Außenstelle Rosenheim: Räume gesucht

Falls Sie direkt helfen wollen: Aktuell sucht Günter Schwarz nach einem Büroraum, in dem nicht nur der Papierkram erledigt, sondern auch Gespräche mit Opfern geführt werden können. Für die Organisation solcher Räumlichkeiten ist jede Außenstelle selbst verantwortlich und im Raum Rosenheim sieht es damit ziemlich schlecht aus. Denn der Weiße Ring gibt sein Geld für die Opferhilfe aus, entsprechend ist keines für Räume übrig. Das mag bei manchen auf Unverständnis treffen, aber bei 400 Außenstellen und den aktuellen Mietpreisen wäre bald für Opfer nichts mehr da. Deswegen darf der Raum auch nichts kosten. Und da hakt es.

Sich Hilfe zu suchen, wenn man sie braucht, ist ein wichtiger Schritt in ein besseres Leben. Niemand sollte sich deswegen schämen, egal welches Geschlecht oder was passiert ist. Niemand muss Gewalt aushalten.